Zwangsmaßnahmen

Ulla Burges

von Ulla Burges

Story

“Guck mal, was hier gekommen ist!” Philipp, siebzehnjĂ€hrig, reichte mir bleichgesichtig ein paar SchriftstĂŒcke vom Landesarbeitsamt, die ich ĂŒberflog. Das Projekt ‘Artico 2000’ kĂŒmmerte sich um SchulabgĂ€nger noch ohne Lehrstelle. Was war dagegen einzuwenden? Es betraf ihn. Freundlich im Ton, inhaltlich leise drohende Paragraphen, Fristsetzungen. Ein 5-Punkte-Programm mit bisher schönen Erfolgen wurde offeriert. Unter ‚Stadtverschönerung‘ wurde lediglich das Engagement der jungen Leute vorausgesetzt. Es war Sommer. Ich riet ihm, beim Amt NĂ€heres zu ergrĂŒnden, bot mein Mitkommen an.

“Leck mich am Arsch, du Scheiße!” rief Philipp, schmiss die Papiere in die Ecke. KĂŒmmerte sich nicht, was zu erwarten war. Das Amt ließ ihm Zeit, Philipp hoffte auf Vergessenwerden, verdödelte die Monate, unlustig, maulfaul, hing ab ohne Zukunftsideen. Das Amt vergisst niemanden. Im Februar die nĂ€chste Post. Das Amt wusste offenbar bestens Bescheid – Zusammenarbeit mit der Schulbehörde. Man beklagte Philipps Arbeitseinstellung, fehlendes PflichtgefĂŒhl, offensichtlichen Leistungsunwillen – kein Nachweis einer Lehrstelle. Ihm wurde die verbindliche Auswahl möglicher TĂ€tigkeiten angewiesen; Kopie des Schreibens an seine Eltern. Im Anhang die Ausbildungen fĂŒr SchulabgĂ€nger mit Notendurchschnitt 1,5: JAVA-Developer, Kunstsachbearbeiter, Vokabeltrainer fĂŒr Landwirte, Kommunikationsfachwirt und Privatisierungsleiter – plus Entlohnungen fĂŒrs erste Ausbildungsjahr. Bis Notendurchschnitt 2,7: Fachwirt fĂŒr MĂŒllabfuhr, Tankwart, Reinigungsbeauftragter, Fischfachwirt. Zivildienst im Kreiswehrersatzamt – auch möglich. Zuletzt das Sonderprogramm, das nun fĂŒr Philipp in Frage kommen wĂŒrde, mit wöchentlicher Arbeitszeit zwischen zehn und achtzehn Stunden je nach TĂ€tigkeit: Textilkoordinator, Straßenbahnreinigung, Assistent in der Bahnhofsmission, HeizungsrĂ€umer, Abfalldifferenzierer.

“Die haben ja ‘n Arsch offen!” rief Philipp erbost, “Kotze rĂ€umen in der Bahn – geht’s noch?! Und das auch noch unentgeltlich!“ Das ist nicht fein, bestĂ€tigte ich ihm, und nur sechs Wochen Zeit, “hier steht’s!” Unterschieben mit besten GrĂŒĂŸen vom freundlichen Artico-Team.

Ängstigenden Aussichten fĂŒhrten zu Philipps hektischer Betriebsamkeit in Sachen Arbeits- oder Ausbildungssuche. ErwĂ€gungen fĂŒr und wider. Berufsbilder begannen, sein Interesse zu wecken. Die Rettung in der Not zeigte sich bald: zunĂ€chst ein Freiwilliges Soziales Jahr, raus aus der behĂŒteten familiĂ€ren Umgebung, erst eigene Schritte wagen. Und ziemlich weit weg von zu Hause. Alles Weitere wĂŒrde sich dann schon finden. Und fand sich auch.

Ein einziger Anruf beim Arbeitsamt hĂ€tte den ganzen Schwindel aufgedeckt. Aber die Schreiben waren gekonnt in Bild und Worte gesetzt. Niemals ist Philipp auf die Idee gekommen, dass hinter der Artico-Aktion, das Beste fĂŒr ihn wollend, kein anderer als seine hintertĂŒckische Familie stand.

© Ulla Burges 2021-04-17

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