Zwei Völker. Die Verstoßenen

Robin M. Reisenauer

von Robin M. Reisenauer

Story

Jenseits der Schlucht war das Leben gut. Dort herrschte Friede und Wohlstand, dort hatte niemand Hunger. Dort musste niemand fürchten, dass man ihn einsperrte, ihn folterte. Während im Sonnenland Ruinen brannten, Kinder hungerten, Frauen siechten und Männer mordeten, strahlte jenseits der Schlucht die große Stadt, Nacht für Nacht wie ein goldener Stern. Die Tannenvölker hatten sich mit ihren Nachbarn verbündet. Ihre Herrscher, ihre Siedlungen und ihre Bürger hatten eine Einheit gebildet. Sie hatten schon vor geraumer Zeit erkannt, dass sie nur gemeinsam bestehen konnten. Man traute einander, schwor den Frieden, schwor auf die Gemeinschaft. Doch nach außen hin blieben sie verschlossener denn je. Je näher sie zueinanderrückten, desto ferner blieben sie den anderen Völkern.

Im Sonnenland war nur Elend verblieben. Die Sonnenbürger hielt nichts mehr hier. Es war Zeit, aufzubrechen. Auf einem grausamen Pfad ins Ungewisse. Einem Pfad, der keiner Gefahr entbehrte. Diebe, Mörder, Spitzel. Soldaten und Wächter. Die Könige ließen niemanden gehen. Wer es dennoch versuchte, dem galt der Tod. Doch selbst hinter den Ausläufern des Sonnenlandes drohte Verderben. Die alten Brücken waren gestürzt worden, nur eine war verblieben und sie wurde schwer bewacht. Die Schlucht musste erklommen werden, über steile Felsen, meilentief. Dort unten schwammen Bestien mit Mäulern, breit wie Fuhrwerke. Wer sie überstanden hatte, musste nun den steilen Aufstieg wagen.

Auf der anderen Seite, dort warteten sie, schossen giftige Pfeile auf jene, die zu nahe kamen. Auf jene, die sie überlebten, wartete das Tribunal. Das Tannenvolk hatte es ausgerufen. Das Tribunal entschied, wer bleiben durfte, bleiben, um Sklave zu sein. Bleiben als Ungleicher, als Verstoßener in fremden Landen. Doch weitaus besser als die Gefahren, die hier jeden Tag wieder über sie hereinfielen. Und besser, als die Entscheidung des Tribunals, zurückgesandt zu werden. Denn wer zurückgesandt wurde, den warfen sie zurück in die tödliche Schlucht.

Niemand schätzte das Sonnenvolk. Man munkelte, man plauderte. Sonnenbürger brachten Krankheit, Ärger, Unruhe und Tod. Sie waren anders, sie waren unangenehm, sie waren unerwünscht. Als Sklaven verrichteten sie all jenes, das ein Tannenbürger niemals anrührte. Sie waren die, die am härtesten schufteten. Sie waren die, dank denen die Stadt nächtens strahlte. Denn sie gruben und bauten und schoben und stapelten, zündeten, wuschen, kehrten und räumten. Und dennoch schmähte man sie, dennoch spottete man. Man war reich und überlegen. Man hatte die Dauerflamme. Ihre Dauerflamme.

Niemand mochte die Sonnenbürger. Sie waren schmutzig, ungehobelt und gefährlich. Sie passten nicht zu Tannenbürgern. Sie waren anders. Anders, denn eine Schlucht trennte sie. Und doch waren sie alle bunt. Manch einer tat dies, manch einer das Andere. Manch einer dachte dies und mancher das Andere. Diesseits und jenseits. Gestern und morgen.

© Robin M. Reisenauer 2021-03-24

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