von MISERANDVS
Als ich gedankenverloren aus dem Fenster sehe und mit den Fingerspitzen über die große Narbe in meiner rechten Handfläche streiche, sehe ich auf die drei kleinen Narben am Daumenballen. 30 Jahre trag ich sie schon mit mir herum. Ein Geschenk meiner Schwester, als ich sie am Arm gepackt hielt, und sie mir ihre Nägel tief ins Fleisch geschnitten hat, weil sie sich losmachen wollte. Als sie sah, wie mir das Blut über die Hand lief, stand sie schockstarr da. Vielleicht dachte sie, dass sie jetzt eine gelangt bekäme von mir. Ich zog sie an mich, küsste sie auf die Stirn und sagte: “Gut so! Lass dir bloß nie was von einem Kerl gefallen!”
Streitereien und Reiberein gehören in jeder Beziehung dazu, denke ich. Bloß Lydia und ich, wir zankten uns nie. Wenn wir unterschiedlicher Meinung waren, sprachen wir beide drüber, drückten uns dabei aneinander und fanden eine Lösung und mindestens ein Küsschen am Ende. Doch ich muss gestehen, einmal, da kam es auch zwischen uns zum Äußersten, zu einer körperlichen Entgleisung der übelsten Sorte. Zartbesaitete sollten lieber nicht weiterlesen!
Lydia stand in der Küche und “mantschte was zusammen”, wie sie Kochen nannte. Ich stand in der Tür, sah sie schmunzelnd an. Wie sie mit dem Popo wackelte und fröhlich sang, sich kostend den Finger in den Mund steckte. In Anbetracht ihrer Bulimie ein paradoxes Bild, wie sie sich beim Kochen amüsierte und sich auf das gemeinsame Essen mit mir freute. Und es sticht mich der Hafer, als ich sage: “Ich liebe es, dich anzusehen, wie du dich in deinem natürlichen Lebensraum, der Küche, bewegst, Weib!” Lydia dreht sich um, hebt den Kochlöffel, macht eine ausholende Bewegung und sagt: “Dutsch!” Ich grinse. Sie auch. Also klatsche ich in die Hände und sage: “Mach hinne, Frau! Erfüll deine Bestimmung! Der Herr hat gesprochen, und es ward Ruhe im Tal!” Lydia dreht sich wieder um zu mir. Ich heb die Brauen herausfordernd. Lydia hält mir ihre geballte Faust unter die Nase und sagt: “Wenn die aufgeht, gehst du unter.” Ich kämpfe krampfhaft gegen mein Lachen an, schlage mir mit der flachen Hand an die Brust und sage: “Spring her, Zwutschkerl, dann reib ich dich ein!” Lydia ballt nun beide Fäuste wie zum Boxen und sagt: “Ich box dich zusammen!” “Was wird das? Zwergenaufstand?”, frage ich. Lydia lacht einmal laut auf, dann sagt sie ernst: “Ich box dir auf die Nase, und wenn du umfällst, dann, … dann, … ludel ich dich an!” Einen Augenblick lang halten wir beide inne, starren einander an, dieses Bild vor Augen, und wir brechen so in Gelächter aus, dass wir beide um Atem ringen. “Du ludelst mich an!”, wiederhole ich immer wieder laut lachend, und Lydia brüllt darüber jedesmal lachend auf. Minutenlang stecken wir einander immer wieder an mit Lachen, bis wir beide Seitenstechen haben.
Dann schweigen wir, sehen einander laut atmend an. Halb drück ich sie, halb zieht sie mich gegen die Anrichte, als es dann tatsächlich zu einem körperlichen Übergriff kommt, den ich hier lieber nicht beschreiben möchte.
© MISERANDVS 2021-06-23