Zwiespalt

Winnie

von Winnie

Story

Es könnte ganz einfach sein: Zwei Personen lieben sich und möchten so viel Zeit wie möglich miteinander verbringen. So einfach.

Doch es ist unendlich kompliziert. Bei mir zumindest. Ich kann die Einfachheit und Klarheit ganz nahe spüren, sie liegt mir auf der Zunge, am Herzen, fast greifbar.

Du sitzt neben mir und legst deine Hand auf meine Schulter. Ich fühle mich geborgen und wohl. Ich fühle mich beengt und in meiner Bewegungsfreiheit behindert.

Du gehst neben mir und nimmst meine Hand. Ich spüre die Verbundenheit, die Zusammengehörigkeit. Ich möchte meine Hand zurück, ich möchte die Freiheit meiner eigenen Gangart.

Du liegt neben mir und umarmst mich. Es fühlt sich so schön an, warm, fest und sicher. Ich will mich von dir wegdrehen, lass mich, beenge mich nicht.

Dabei mag ich dich gern. Du sagst, du liebst mich.

Plötzlich rutsche ich ins Jahr 1955 zurück. Meine Mutter hat meinen ältesten Bruder geboren, ist seit einigen Monaten mit meinem Vater verheiratet. Sie sollte glücklich sein, alles könnte einfach sein.

Doch sie fühlt sich im Stich gelassen, sie hatte sich alles anders erträumt. Mein Vater ist zwar verliebt in sie, aber er hat auch viele andere Interessen. Er lebt für seinen Beruf, leitet einen Chor, geht gern auf Berge, reist gern, sportelt gern, ist gern in Gesellschaft. Sie fühlt sich allein gelassen in ihrer Verantwortung, ihr fehlen seine Bewunderung und die gesellschaftliche Wertschätzung. Sie vermisst die Unterstützung ihrer entfernt lebenden Mutter, ihres verstorbenen Vaters, ihrer mit ihr konkurrierenden Schwester, ihrer mit eigenen Problemen beschäftigten Brüder, in diesem Ort noch fehlende Freundschaften.

Wieder rutsche ich zurück, diesmal ins Jahr 1934. Meine Oma hat den kleinen Keuschlerhof ihrer Eltern geerbt und lebt mit meinem Opa und meinem damals dreijährigen Vater hier. Sie könnte glücklich sein, ist privilegiert, obwohl die Zeiten schlecht sind. Für Menschen ohne Selbstversorgung gibt es kaum genug zu essen. Jedes Stück Obst wird verwertet, jeder Liter Milch der einzigen Kuh wird verarbeitet, jede Kartoffel vom Feld geerntet, jedes Stück Fleisch des Schweines verkocht. Sie entwickelt Geiz, ist enttäuscht von ihrem Mann, er hat ihr nur einen Sohn geschenkt, sie hätte gern mehr Kinder. Er arbeitet als Maurer und verdient wenig, hilft nebenbei noch den Nachbarn in seiner spärlichen Freizeit, macht alles anders als ihr verstorbener Vater, sie ist nie zufrieden. Wenn er wenigstens für die neue Partei wäre, könnte er vielleicht eine besser bezahlte Arbeit bekommen, aber er ist unsicher, ein Mitläufer, ohne Führungsansprüche.

Ich möchte zufrieden sein mit dir, dich wertschätzen und achten können. Und ich möchte soviel persönliche Freiheit, dass ich mich entfalten kann.

Du wirst meine Hand wohl loslassen müssen, deinen Arm von meiner Schulter nehmen müssen, auf deiner Seite im Bett bleiben müssen. Und auf mein Bedürfnis nach Nähe warten. Wird es jemals kommen? Ich wünsche es mir sehr.

© Winnie 2021-06-22

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