von Giggu
Er geht jeden Tag an den Schaufenstern vorbei. Er hinkt ein wenig, stellt sie fest. Manchmal bleibt er stehen und sondiert das Angebot, aber noch nie ist er eingetreten, um etwas zu kaufen. Sie überlegt, warum ihr dieser Mann überhaupt aufgefallen ist, es gehen doch viele Menschen an ihrem Buchladen hier in der Fußgängerzone vorbei. Sie schätzt, dass der Mann ungefähr in ihrem Alter ist, Mitte dreißig, höchstens vierzig. Er ist sehr schlicht angezogen und hat auch sonst nichts an sich, das bemerkenswert wäre. Und doch …
„Frau Chefin!“, ruft ihre Teilzeitkraft, eine gutgelaunte Studentin, ihr zu „dein Kaffee wird kalt!“ „Danke dir, Sabine, du verwöhnst mich. Ein Genuss, bevor wir uns aufs Einräumen der neuen Lieferung stĂĽrzen“. Der Tag in der Buchhandlung vergeht mit kompetenten Beratungen fĂĽr lesefreudige Kunden. Knapp vor Geschäftsschluss werden in den Auslagen noch die Neuerscheinungen präsentiert. Elisabeth nimmt im Augenwinkel einen Schatten auĂźerhalb der Glasscheibe wahr und richtet sich auf. Sie blickt in samt-braune, gĂĽtige Augen, umrahmt von einem dunklen Wimpernkranz, die sie fĂĽr ein paar Minuten fixieren. Dann hinkt der Mann weiter. Sabine schmunzelt und meint: „Kann es sein, dass meine Chefin soeben in den faszinierenden Augen von Herrn Al-Dimashqi versunken ist?“ „Du kennst den Herrn, Sabine, woher? Und nein, ich bin gar nicht versunken. Also nicht richtig und auch nur kurz“. Elisabeth errötet. Beide lachen. „Er ist ein Netter. Ein Syrer, der geflĂĽchtet ist, weil seine ganze Familie ausgerottet wurde. Er arbeitet als Freiwilliger bei der Caritas, wo ich auch gelegentlich aushelfe. Weil er dort nichts verdient, stellt er sich manchmal auf den Arbeitsstrich und hofft, dass ihn jemand gegen Bezahlung arbeiten lässt. Er ist handwerklich geschickt, dabei hat er in Damaskus eigentlich Sprachen und Literatur studiert“. „Das sind Schicksale – echt schlimm!“ Nachdenklich schlieĂźt Elisabeth ihren Buchladen. In dieser Nacht erscheinen ihr im Traum braune Augen. Viele Gedanken gehen ihr durch den Kopf und alle haben etwas mit einem groĂźen, leicht hinkenden Mann zu tun. Es reift ein Entschluss in ihr…
Am nächsten Morgen ist sie früher als üblich im Geschäft. Nervös schiebt sie Bücher hin und her, schaltet Computer und Kaffeemaschine ein, ohne die Schaufenster auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Sie sieht Herrn Al-Dimashqi schon von Weitem kommen und als er ihren Buchladen fast erreicht hat, tritt sie vor die Türe und spricht ihn mit klopfendem Herzen an: „May I ask you something, Sir?“ Herr Al-Dimashqi bleibt verblüfft stehen, seine Augen wirken belustigt und er antwortet: „Sie können gerne mit mir Deutsch sprechen.“ Dabei öffnet er den Mund zu einem freundlichen Lächeln und entblößt strahlendweiße Zähne. Elisabeth ist so hingerissen, dass ihr kurz die Worte fehlen. Sie fasst sich wieder und erklärt ihm, dass sie Arbeit für ihn hätte, als zweite Teilzeitkraft wäre er eine große Hilfe. Sie würde ihn natürlich einschulen und bezahlen, sprudelt es aus ihr heraus. Herr Al-Dimashqi möge ihr bitte bis heute Abend Bescheid geben.
Am späten Abend ist im Buchladen noch Licht. Während Herr Al-Dimashqi tadelloses Deutsch spricht, bemühen sich Elisabeth und Sabine wenigstens seinen Namen richtig auszusprechen!
© Giggu 2025-05-30