Luca war achtzehn, als er zum ersten Mal bewusst darüber nachdachte, wer er eigentlich war — nicht nur, was er werden wollte, sondern wer er in sich trug, wenn die Welt draußen still war. Er lebte in einem kleinen Ort im Norden Deutschlands, wo jeder jeden kannte und es einfacher war, sich anzupassen, als aufzufallen.
Schon in der Schule hatte er gespürt, dass etwas anders war. Während seine Freunde über Mädchen sprachen, ihre Blicke ihnen folgten und sie sich in stillen Konkurrenzkämpfen verloren, spürte Luca nur Unsicherheit. Er spielte mit, lachte an den richtigen Stellen, nickte zustimmend. Doch innerlich fühlte es sich leer an — wie eine Rolle, die er nicht freiwillig übernommen hatte.
In den langen Nächten, wenn das Haus ruhig war und seine Eltern schliefen, saĂź er oft vor dem Laptop. Nicht wegen Pornos — zumindest nicht in der Art, wie man es erwarten wĂĽrde — sondern wegen Foren, Videos, Blogs. Geschichten von anderen jungen Männern, die sich Fragen stellten, die auch in ihm brannten: „Bin ich schwul? Bi? Oder einfach verwirrt?“
Manche dieser Geschichten endeten traurig, andere voller Hoffnung. Doch jede einzelne war wie ein Licht in der Dunkelheit: Er war nicht allein. Mit neunzehn ging Luca zum ersten Mal in die Stadt. Nicht zum Shoppen oder auf ein Konzert, sondern zu einem queeren Jugendtreff, den er nach wochenlanger Recherche gefunden hatte. Er sagte zu Hause, er wolle „ein bisschen Zeit in der Stadt verbringen“, was ja nicht gelogen war. Der Jugendtreff war klein, aber warm. Es roch nach Kaffee und alten Sofas, und an den Wänden hingen Poster von Pride-Paraden und queeren Ikonen.
Dort traf er Jonas. Jonas war offen, witzig, ein bisschen laut. Vor allem aber war er ehrlich. Er sprach ganz selbstverständlich über seine erste Beziehung mit einem Jungen, seine Ängste beim Coming-out und darüber, wie lange es gedauert hatte, sich selbst zu akzeptieren. Luca hörte zu und fühlte zum ersten Mal, wie sich etwas in ihm löste — wie ein Band, das viel zu lange um sein Herz geschnürt war. Die Wochen vergingen. Luca fuhr immer häufiger in die Stadt, lernte neue Menschen kennen, stellte Fragen, lachte, schwieg, fühlte.
Irgendwann saß er allein mit Jonas am Ufer eines kleinen Flusses, der durch den Park floss. „Ich weiß immer noch nicht, wie ich mich nennen soll“, sagte Luca leise. „Ob ich schwul bin, bi, oder… ich weiß nicht.“ Jonas sah ihn an, ohne zu urteilen. „Du musst dich nicht sofort festlegen“, sagte er. „Du bist, was du bist – und das darf sich verändern. Es geht nicht um Labels, sondern darum, ehrlich mit dir selbst zu sein.“ In dieser Nacht, zurück in seinem Zimmer, schaute Luca in den Spiegel. Nicht mit der gewohnten Unsicherheit, sondern mit einem Hauch von Stolz.
Er war noch nicht ganz angekommen – aber er war unterwegs. Und das zählte.
© Alexandros Ostrowski 2025-06-25