Kurze Zeit später erreichten sie über eine schmale Serpentinenstraße das auf einer kleinen Anhöhe liegende Anwesen und der Bulli kam vor dem Haupteingang der Bibelschule mit quietschenden Reifen zum Stehen. Ben stieg aus dem Wagen und betrachtete das altertümliche Gebäude mit schneeweißer Fassade mit einer hochgezogenen Augenbraue. Die Luft roch nach frisch gemähtem Gras und in einiger Entfernung hörte man das Geräusch einer Motorsäge. Das Schloss bestand aus vier Etagen und einem kleinen modernen Anbau. Die Seiten des Hauptgebäudes wurden durch zwei runde Türme gesäumt und aus der Mitte ragte ein mit Ornamenten bestückter Dachgiebel hervor. Die mittleren und seitlichen Fenster bestanden aus Rundbögen und alle anderen Fenster wurden durch rote Klappläden geziert. Hier und da besaßen die Zimmer einen französischen Balkon mit bepflanzten Blumenkästen und an einigen Stellen ragten Schornsteine aus dem Dach. Das Gebäude erinnerte an ein rustikales Prinzessinnenschloss und hätte glatt als Filmkulisse für ei-nen schnulzigen Teenagerfilm herhalten können. Das Knallen der Fahrertür holte Ben zurück in die Realität und mit verdutztem Blick schaute er über die Schulter. Das war also der Ort, an dem er seine „Bestrafung“ abarbeiten sollte? „Nichts leichter als das“, dachte Ben innerlich und stellte fest, dass ihm die ganze Situation irgendwie absurd vorkam. „Kein schlechter Ort für ein Jahr, oder?“, scherzte Daniel, der Bens Gesichtsausdruck abermals perfekt zu deuten schien. Das Wort „Jahr“ holte Ben augenblicklich zurück auf den Boden der Tatsachen und er zuckte unwillkürlich zusammen. Das hier war keine lustige Klassenfahrt oder ein Kurztrip in die Berge, dass hier würde für ein Jahr sein Leben sein und er würde für eine lange Zeit auf seine Freunde und Familie verzichten müssen. Daniel hatte die Zeit von Ben`s Schockstarre dazu genutzt, das Gepäck aus dem Wagen zu holen. Er berührte Ben kurz an der Schulter und gab ihm mit einer Bewegung zu verstehen, ihm ins Haus zu folgen. Beim Betreten der Lobby stieg Ben ein leichter, appetitlicher Duft in die Nase, der ihn sofort an den Sonntagsbraten seiner Großmutter erinnerte. Der großzügige Raum war mit einigen blauen Polstermöbeln, einer klobig wirkenden Rezeption aus Holz und offenen Schränken mit unzähligen Flyern bestückt. Hinter der Rezeption entdeckte Ben mehrere gerahmte Gruppenfotos mit Jahreszahlen und oberhalb des Tresens lugte ein Schopf roter Locken hervor. „Kann man dir irgendwie behilflich sein, Magda?“, rief Daniel in Richtung des Haarbüschels. Es rumpelte und hinter der Rezeption erschien eine kräftige Frau mit schwarzer Hornbrille und wirren roten Locken. Magda war mittleren Alters und hatte ein freundliches Gesicht mit unzähligen Sommersprossen. Verwirrt pustete sie sich die Locken aus dem Gesicht und schob ihre verrutschte Brille grade.
© Tamira Schwanbeck 2025-02-11