von Louis Eikemper
Es roch nach verbranntem Eisen und nassem Leder, als Ludwig aus der Bewusstlosigkeit tastend zurück in das zersplitterte Jetzt stieg. Seine Zunge fühlte sich an wie ein schmutziger Lappen, den man zu lange in Bitterkeit getränkt hatte. Der Boden unter ihm bebte leicht – kaum merklich, wie das Zittern eines Herzens beim Erwachen.
Schwaches Licht zuckte durch den Flur – nicht das einer Glühbirne, auch nicht die Flamme eines Feuerzeugs, sondern viel mehr ein phosphoreszierendes Flackern, das in seinem Verlauf an die Bewegungen der Kiemen von Tiefseewesen erinnerte. Ludwig versuchte sich aufzurichten, doch sein linker Arm gehorchte ihm nicht. Nur das leise Knacken seiner Schultern bestätigte ihm, dass er überhaupt noch existierte.
»Du hast viel mit dir genommen«, grollte eine Stimme aus der Finsternis, »und deine Erinnerungen wiegen schwer.«
Ludwig zuckte zusammen. Die Stimme war dieselbe wie jene, die über den Hörer zu ihm gesprochen hatte, nun jedoch von einer akustischen Aura umgeben, so als würde sie gleichzeitig von fern und von innen gesprochen werden.
Mühsam richtete er sich auf. Über ihm ragte eine verschleierte Gestalt. Sie war zwar nicht sonderlich groß, auch nicht breiter als gewöhnlich oder gar monströs. Aber… unheimlich.
Die Umrisse der Figur verschwammen. Es schien, als wĂĽrde sie nicht im Raum, sondern zwischen den Zeiten stehen.
Der Schleier, der ihr Gesicht verhĂĽllte, wich. Zwei Augen blickten Ludwig entgegen, die wie ein Spiegel auf ihn einwirkten – einer, der ihm seine tiefsten AbgrĂĽnde offenlegte.
»Ich will nur zu meiner Frau. Lass mich gehen. Ich schwöre dir – ich weiß nichts, ich…«, stammelte Ludwig.
Die Gestalt nickte verstehend, ehe sie zischte: »Lüg uns nicht an, Ludwig! Wir wissen, dass du die Karte hast, die uns zum Chronovisor führt.«
Ein metallischer Gegenstand wurde auf das Tischlein gelegt.
Es war Ludwigs Taschenspiegel.
»Was siehst du?«, fragte die Gestalt.
Ludwig griff zögerlich danach, klappte ihn auf – und erstarrte.
Die Spiegelfläche zeigte ein Gesicht, doch es war nicht das seine.
Verzerrte ZĂĽge blickten ihm entgegen, so fremd,
als hätte die Zeit ihn mit einer anderen Person ausgetauscht.
»Ich… weiß nicht, wer das ist«, flüsterte er.
Die Gestalt nickte abermals.
»Dann wird es bald Zeit, Ludwig.«
Wind fuhr durch den Raum, so als hätte sich ein Portal geöffnet. Kurz darauf zog ein kräftiger Sog an seinen Füßen – Erinnerungen flatterten aus Ludwigs Gedankenwelt wie Mottenschwärme: zuerst das zauberhafte Lächeln Nymelas, dann die vielen Stunden der Sorgfalt, welche er für all die Einträge in seinen Notizbüchern aufgebracht hatte und schließlich das Echo jener tristen Tage, die er in Porta Fati verbrachte.
Die Gestalt trat drei Schritte nach hinten, ehe ihr Gesicht wieder vom Nebeldunst verschleiert wurde.
»Wenn du dich finden und jemals zu Nymela heimkehren willst,
solltest du zunächst einmal verstehen, wer ich bin – und warum du hier bist.«
Ein Donnerschlag ertönte –
ehe Ludwig hochschrak und erkannte, dass er zurĂĽck in Porta Fati war.
Er saß wieder in seinem alten Sessel, hatte die Vermillion-farbene Pfeife in der einen und das Telefon in der anderen Hand. Der Eisregen hatte inzwischen aufgehört zu toben.
War all das nur ein Traum gewesen? Eine Warnung? Oder eine Begegnung der dritten Art?
Langsam erhob er sich aus der Versenkung des Sessels. Auf dem Tisch lag eines der NotizbĂĽcher, die er noch unberĂĽhrt in Erinnerung hatte. Eine der leeren Seiten war aufgeschlagen worden. Dort befand sich eine Zeile, geschrieben in seiner eigenen Handschrift. So sehr er sich auch bemĂĽhte, konnte er sich nicht erinnern, sie je geschrieben zu haben.
„Sie wartet dort, wo du dich wiedererkennst.“
Ludwig runzelte verwundert die Stirn, ehe er die Lippen aufeinander presste und unsicher zur TĂĽr blickte. Sein Rucksack war gepackt und der Taschenspiegel lag darauf. Als er in diesen hineinschaute, war das Antlitz, welches ihm entgegenblickte, weiterhin fremd. Er schluckte.
Plötzlich spürte Ludwig, wie die Präsenz der Gestalt in seine Gegenwart zurückkehrte und ihn schweigend musterte, so als könnte sie sehen, wie der letzte Rest Gewissheit aus seinem Innern verschwand.
»Erkennst du dich noch?«, fragte sie.
Ludwig wollte nicken, doch sein Kopf verharrte regungslos. Der Blick im Spiegel war starr, gläsern – wie der eines Fremden, der ihn schon lange beobachtet hatte.
»Dann bist du bereit«, sagte die Stimme. Es war kein Trost darin, kein Befehl. Es war eine Feststellung.
Die Gestalt hob eine Hand – und deutete ihm zu folgen.
Ludwig weigerte sich.
»Was ist das hier? Wer seid ihr? Wohin gehen wir?«, stieß er hervor. »Warte mal… ich weiß doch gar nicht, wohin es geht. Bringt ihr mich wieder zurück?«
Die Gestalt drehte sich halb zu ihm.
»Wir sind die Wächter der Schwelle.«
Ein leiser, kalter Wind strich durch das Gemäuer seiner vier Wände – wie ein überirdischer Gedanke, der Zeit und Raum definierte.
»Niemand kam und niemand kommt je zurück.«
© Louis Eikemper 2025-06-19