von Anné Murrer
Die Menschen gehen merkwürdig mit einem um, wenn sie erfahren, dass du ein Elternteil verloren hast. Die meisten vermeiden das Thema, als wäre es eine Krankheit, an der man sich anstecken könnte. Andere wiederum begegnen einem mit Mitleid. Mir waren beide Wege recht. Mila war in dieser Zeit ein wahrer Engel. An demselben Abend, als meine Mutter starb, übernachtete ich bei ihr und sie schaffte es tatsächlich mich so gut abzulenken, dass ich zwischendurch sogar lachen konnte. In den darauffolgenden zwei Wochen blieb ich zu Hause, während Mila in der Schule alles organisierte, was für mich wichtig war. Ich erhielt drei Kondolenzkarten: Eine von meiner Klasse, eine vom Lehrerkollegium und eine von meinem Schuldirektor. Meine Mitschüler hatten damals anscheinend eine Diskussion darüber, ob sie wirklich den Satz „Irgendwann wirst du lernen, es zu akzeptieren“ in die Karte schreiben sollten. Leider hatte anscheinend niemand durchsetzen können, es zu unterlassen. Ich hätte mir wohl jede Menge Zeit lassen können, doch ich kehrte relativ schnell wieder in den Unterricht zurück, denn dort fand ich die Normalität, die ich dringend brauchte. Womit ich jedoch nicht umgehen konnte waren gewisse Kommentare von Leuten, die wohl nicht wussten, wie verletzend ihre Worte waren. Als ich mich bei meinem Chemielehrer für meine mangelnde Konzentration im Unterricht entschuldigte und ihm meine Situation erklärte, sagte er dazu nur: „So traurig siehst du aber gar nicht aus.“ Eine damalige Freundin, die ich relativ kurz danach abgesägt hatte, sagte mir wiederum: „Ich weiß gar nicht, warum du so viel trauerst. Du mochtest deine Mutter doch eh nicht.“ Nun ja, ich schätze, dass ich daran nicht ganz unschuldig bin. Ich hatte selbst oft genug darüber gesprochen, wie sehr ich meine Mutter manchmal verabscheute. Und dennoch war sie nun einmal Mutter. Jetzt im Nachhinein weiß ich, dass mein Hass daher rührte, dass ich mit der ganzen Situation einfach nicht umzugehen wusste. Dass ich nicht meine Mutter hasste, sondern ihre Krankheit. Für diese Erkenntnis habe ich jedoch lange Zeit und mehrere Therapiestunden gebraucht. Also kann ich die Worte meiner Freundin von damals nicht einmal übelnehmen. Von meinem Schuldirektor hingegen hätte ich mehr Feingefühl erwartet. Er saß einmal in unserer Physikstunde als Hospitant hinten im Klassenraum. Nach dem Ende der Stunde ging ich zu ihm hin, um mich für die Kondolenzkarte zu bedanken. Seine Antwort darauf war: „Ach, Sie sind die arme Sau!“ Es wäre wohl angemessen gewesen darauf wütend zu reagieren. Irgendeine Therapeutin, die man mir damals aufgezwungen hatte, war ganz besessen von dieser Emotion. „Das hat Sie doch sicher wütend gemacht, nicht wahr?“ Nein, das hatte es nicht. Tatsächlich würde es sehr, sehr lange dauern, bis ich wieder Wut fühlen konnte.
© Anné Murrer 2023-08-25