by Dorian Auer
Es war irgendwann im Sommer 2002, als ich meine erste Freundin am Bahnhof abholte. Wir hatten uns online kennengelernt, auf einem Portal für Leute, die die japanische Kultur, Games, Anime und Manga mögen. Ich war dort gerne, weil ich viel zeichnete. Man konnte seine sogenannten Fanarts auf dem Portal hochladen und der Welt zeigen. Und wie heute noch, schrieb ich viel. Auch Fanfictions fanden in meinem digitalen Zuhause Platz. Und ja, ich meinte gerade bewusst “Zuhause”, denn die Webseite war mein ganz persönlicher Safe Space. Sie war der einzige Ort, an dem ich sein konnte, wer ich wirklich war und das, ohne dafür verurteilt zu werden: Kreativ, ein bisschen verrückt, mit ganz vielen Fantasie-Geschichten im Kopf. Und vor allem ein Junge.
Ein Junge, das durfte ich im Leben fernab meines Computers nicht sein. Die Ärzte und Hebammen, die meiner Mutter im August 1988 dabei halfen, mich auf die Welt zu bringen, beschlossen nämlich, dass ich weiblich sei. Schlussendlich musste man sich entscheiden. Das muss man auch heute noch – es gibt nur ein binäres Weltbild. Penis hatte ich bei meiner Geburt auf jeden Fall keinen. Also hieß man mich fälschlicherweise als Mädchen willkommen.
Und dennoch stand ich 2002 als nervöser Junge am Bahnsteig Nummer 8, in einer damals so angesagten Skater-Hose, mit weitem Kapuzenpulli in Hellblau und einer Schildkappe von New Yorker auf dem Kopf. Meine Mutter war an jenem Tag bei mir, denn ich war erst 14 und menschenscheu.
Bis dato war ich immer wohlbehütet gewesen – jedenfalls, wenn es darum ging, nicht allein durch die Weltgeschichte zu laufen und abends nicht zu spät nach Hause zu kommen. Theoretisch. Denn mein Kinderzimmer verließ ich sowieso nie. Ich hatte in der Stadt, in die wir gezogen waren, nämlich keine Freunde. Meine beste Kindheitsfreundin und Schwester im Geiste wohnte weit weg, in der Heimat. Und in meiner Schulklasse wurde ich bis aufs Äußerste gemobbt, weil ich mich in den Augen der anderen Teenager zu maskulin präsentierte. Man kippte mir dort Saft über den Kopf und lachte laut. Man nannte mich “Die, die ihre Brüste zuhause vergessen hat”. Und niemand tat etwas dagegen – weder die Lehrerinnen, noch meine Eltern. Ich müsse da eben durch, meinte meine Mutter stets. Es war grauenhaft und bloßstellend. Also war mein einzig sicherer Platz daheim, vor meinem PC. Und meine Engsten und Gleichgesinnten traf ich dort im Internet, anstatt rauszugehen.
Nun stand ich aber kurz davor, jemanden aus meiner schönen digitalen Welt im “richtigen Leben” fernab meines Zimmers zu treffen: Das Mädchen, mit dem ich an diesem Tag schon seit etwa einem Jahr zusammen war. Und als ich am Bahnsteig Nummer 8 stand, bedachte ich nicht, dass sie mich nur unter meinem selbst gewählten Namen kannte: Einem neutralen Rufnamen, “Oni”. Und die Fotos, die sie von mir gesehen hatte, waren wenige gewesen. Mein Herz raste. Und ich fragte mich, ob sie mich gleich überhaupt erkennen würde.
© Dorian Auer 2022-06-16