by Julika Bünz
Gestern bin ich zehn geworden. Meine Geschenke waren eine Babypuppe aus Stoff und ein großes Stück Segeltuch, aus dem ich mir eine Flugmaschine bauen will. Ich habe meiner besten Freundin Pheline davon erzählt. Eigentlich war es nämlich unser gemeinsamer Plan, fliegen zu lernen. Sie hat mir zugehört, gelächelt und dann in so einem komischen Ton, den ich sonst nur von Mama oder den Erziehern kenne gesagt: „Luca, wir kommen bald in die fünfte Klasse. Ich glaub, wir sollten anfangen andere Sachen zu spielen, als nur Fantasiespiele“.
Noch bevor ich antwortete, wusste ich, dass jetzt etwas Großes, Wichtiges zu Ende gehen würde und ich es nicht aufhalten konnte. „Mit dem neuen Segelstoff können wir aber in echt fliegen. Wir müssen es nur doll genug spannen und einen hohen Berg finden, wo es ganz windig ist. Dann klappt es bestimmt“, sagte ich trotzdem. An den Rest des Gesprächs erinnere ich mich nicht mehr, nur noch das doofe Gefühl, was ich seitdem habe, ist sehr präsent. Ich greife mir meine Puppe und ziehe sie um. Ihre blauen Haare sind eigentlich zu kurz, um sie zu flechten, aber ich probiere es trotzdem. Es funktioniert. So wie eigentlich alles, was ich mir vornehme. Ich bin zehn Jahre alt und habe schon ein eigenes Zelt für meine Stofftiere gebaut. Ich habe drei Bücher geschrieben, sämtliche Kleidungsstücke gehäkelt und bei der Mathe-Olympiade gewonnen. Und ich gewinne manchmal gegen Mama im Schach. Warum sollte ich nicht auch eine Flugmaschine bauen können?
Natürlich ist jeder Plan erst mal eine Fantasie, weil man es ja noch nicht gemacht hat. Aber warum sollte man dann in dieser Planungsphase direkt aufgeben? Das Haustelefon klingelt und ich nehme am schnellsten den Hörer ab. Es ist Pheline, juhuu. Jetzt kann ich sie vielleicht doch noch davon überzeugen, dass jedes Fantasiespiel mit genug Ausdauer und guten Ideen zu einem echten Spiel gemacht werden kann. Bevor ich dazu komme, sagt sie: „Es gibt schlechte Nachrichten. Wir waren gerade beim Tag der offenen Tür vom Emma-Stone-Gymnasium und es hat mir da echt gut gefallen. Außerdem kann ich einfach mit dem Fahrrad hinfahren und muss nicht mehr den Bus nehmen“. „Oh“, sage ich. „Tut mir leid“, sagt sie. „Egal“, sage ich, „wir können uns ja trotzdem noch nach der Schule treffen“. – „Genau“.
Wir trafen uns nicht nach der Schule. Pheline fand schnell eine Gruppe von Mädchen in ihrer neuen Klasse, mit der sie die ganze Zeit abhing, und ich, naja, es gab auch viel, was ich nach der Schule tat. Ich hörte alle sieben Hörbücher von Harry Potter. Das längste ist 33 Stunden und 3 Minuten. In der Zeit habe ich auch viel gebastelt und gebaut. Nur die Flugmaschine gab ich auf, denn immer, wenn ich damit anfangen wollte, kam dieses blöde Gefühl wieder hoch und irgendwann war ich mir gar nicht mehr so sicher, ob jede Idee wirklich umsetzbar war. Ihr müsst wissen, es ist viel schwerer, an etwas zu glauben, wenn man alleine ist. Ich und Pheline damals, haben uns gegenseitig immer so viel bestärkt und eingeredet, dass ich automatisch alles für möglich gehalten habe. Oder liegt es nur daran, dass ich früher jünger und somit naiver war? Vielleicht lässt die fünfte Klasse wirklich jede Magie aus der Kindheit verloren gehen. Auf Jonas traf das nicht zu.
© Julika Bünz 2024-08-30