Als ich Kurt Cobain im März 1994 begegnete, übte er seinen Job als Kellner im Wiener Café Weidinger aus. Es war ein verregneter, warmer Vorfrühlingstag und die Uhren tickten irgendwo zwischen Gürtel-Rushhour und Seniorenclub auf ORF2. Neben dem Bierdeckelhalter lag auf meinem Tisch im Café noch die vom Vorgänger zerfaltete Ausgabe der Abendkronenzeitung. Ich überflog die Schlagzeile der Zeitung, „Petra Frey fliegt für uns nach Dublin“, und fing an, das absichtlich auf den Tisch geklebte Etikett der Firma Murauer feinsäuberlich mit meinen Fingernägeln herunterzukratzen. Als mir der dunkelbraune Röhrenfernseher sanft die aktuellen Lottozahlen zuflimmerte, bemerkte ich die beruhigende Wirkung des diffundierten Zigarettenrauchs um mich herum. Das Fernsehgerät befand sich friedlich in der linken oberen Ecke neben dem Haupteingang und hing dort wohl mit der Ewigkeit eines Grönlandhais vor sich herum. In diesem Moment erschien mir der durchaus charmant chaotisch wirkende, blonde, halbjunge Mann als auffallend. Kurt war nach der In-Utero-Tour zurück in seine alte Wohnung in der Gersthofer Straße gekommen und brauchte wohl erneut eine Auszeit vom Nirvana. Jetzt wirkte er fast ein bisschen wie die Lottofee. Das Lächeln arbeitete stets funktionstüchtig und seine Blicke waren scharf, aber leer. Aufmerksam apathisch starrte er durch den diffusen Raum und nahm im Hier und Jetzt Bestellungen auf. Ich bestellte einen Verlängerten bei ihm. Die klebrigen Reste des Etikettes hatte ich gänzlich von der Marmoroberfläche abgezupft und zerrollte sie anschließend zwischen Daumen und Zeigefinger in kleine, kugelähnliche Skulpturen. Nachdem ich diese dann im Zusammenspiel mit Daumen und Mittelfinger auf Kniehöhe wegschnipste, kam Kurt schelmisch grinsend zurück an meinen Tisch. Er servierte mir fein säuberlich den bestellten Kaffee. Auch der Zuckerstreuer, bei welchem mir aufgefallen war, dass er nicht schon wie gewohnt am Tisch gestanden hatte, als ich das Café betreten hatte, war jetzt zurückgekehrt. Tiefstilles, klares Leitungswasser, verfrachtet in ein eckiges Viertelliterglas, rundete die Installation am ovalen Serviertablett stilvoll ab. Was folgte, war ein kurzes Gespräch über das geplante Konzert von Falco mit einem 80-Mann-Orchester sowie die neuen Kebabstände am Wiener Gürtel. Entspannt begann ich also am Kaffee zu nippen. Da fiel mir zu meinem Entsetzen gleich auf, dass Kurt den Zuckerstreuer mit Salz befüllt hatte. Es durchbrodelte mich eine Stinkwut und ich konnte keinen Freudenmoment mit Kurt teilen. Per Handzeichen machte ich mich bei ihm bemerkbar. „Kurt! Das ist der schlechteste Witz des Jahres. Bitte mach dich wieder nützlich und schreib neue Songs oder mach Gebrauch von deiner Waffe!“ Kurt schaute mich verdutzt an, wie jemand einen anschaut, der sich denkt: „Warum bin ich da nicht früher darauf gekommen!?“ Ich weiß nicht, ob ich die Idee mit der Waffe rückblickend bereue.
© Moritz Rauter 2022-07-15