Es war mein dritter Tag Louisâ Herberge. Ich erholte mich nur langsam von meiner ErkĂ€ltung und sass auf dem schĂ€bigen Sofa in der Scheune, die zum Ess- und Aufenthaltssaal umgebaut war. Unter meinen FĂŒssen juckte schon wieder der Jakobsweg, der lĂ€ngst weiter gegangen werden wollte. In meinen HĂ€nden hielt ich einen ReisefĂŒhrer fĂŒr die nĂ€chste Strecke: St-Jean-Pied-de-Port bis Santiago de Compostela auf dem Camino FrancĂ©s. Neben mir auf dem Sofa lag die Alternative: der ReisefĂŒhrer fĂŒr den rauheren und schwierigeren, aber offenbar viel schöneren Camino del Norte. Beide Wege wĂŒrden durch die PyrenĂ€en, durch Spanien und letztlich bis nach Finisterre fĂŒhren â doch so sehr ich weiter wandern wollte, genauso deutlich spĂŒrte ich, dass ich meine Marschpause noch ein wenig verlĂ€ngern musste.
Der FrĂŒhstĂŒckstisch war immer noch gedeckt, obwohl es war schon fast Mittag war. Die heutigen Pilger waren lĂ€ngst aufgebrochen und hatten mich und dieses StĂ€dtchen hinter sich gelassen. Es war still im Haus. Weder Louis noch sein Hund Libellule waren hier. Also begann ich, die benĂŒtzten Teller aufeinander zu stapeln und das Besteck zusammenzurĂ€umen. Die Servietten warf ich weg und trug das alles andere in die KĂŒche, wo ich einen GeschirrspĂŒler fand. Ich rĂ€umte ihn ein, doch ich wusste nicht wie einschalten, also deckte ich die Butter zu, schloss die KonfitĂŒrenglĂ€ser und stellte sie zu den Milchflaschen im grossen KĂŒhlschrank. Die zwei Baguettes, die noch auf dem Tisch lagen, packte ich in ein Papier und legte sie auf den kleineren Tisch in der KĂŒche, wo ich auch einen Lappen fand, mit dem ich den riesigen Tisch in der Scheune putzte. Erst jetzt fiel mir auf, dass es sich um ein wunderschönes, altes Holzmöbel mit Schnitzereien an seinen Tischbeinen handelte, und dass die OberflĂ€che nur so grotesk hĂ€sslich wirkte, weil ein dunkelbraunes Plastiktuch auf dem Tisch lag, und darĂŒber sogar noch ein durchsichtiges Plastik mit Brandlöchern.
In der Empfangshalle stand Louis’ Pult und darauf herrschte ein einziges Chaos aus Zetteln und BĂŒchern; auf allem oben drauf lag eine schwere alte Bibel, in schwarzes Leder gebunden. Es war ziemlich finster hier drinnen und ich fröstelte ein wenig. Obwohl erst frĂŒher September war, und ein zauberhafter Herbst vor uns liegen sollte, war es in den letzten beiden Tagen frisch geworden – fast kalt nach der Hitzewelle, die mich auf meinem Fussmarsch durch den französischen Sommer begleitet hatte. Ich wollte oben, im zweiten Stock, wo ich in ein Mehrbettzimmer einquartiert war, mein langĂ€rmliges Thermo-Shirt holen. Doch da hörte ich aus der Scheune ein Poltern und dann lautes Fluchen. Es war Louisâ Stimme und ich wollte ihm kurz sagen, dass ich wegen der ErkĂ€ltung eine weitere Nacht bleiben wĂŒrde. Da sah ich, dass eine seiner Papiertaschen zerrissen war und seine EinkĂ€ufe verstreut auf dem Boden lagen.
© Stefanie Portmann 2022-10-12