100 Freunde oder 100 Rubel?

Elisabeth Hofer

by Elisabeth Hofer

Story

Wenn ich mein Leben in Moskau von 1991 bis 1993 mit einem kurzen Satz beschreiben sollte, der genau den Punkt trifft, so würde ich das folgende russische Sprichwort wählen: „Не имей сто рублей, а имей сто друзей“ – 100 Freunde zu haben ist besser als 100 Rubel.

Meine Erinnerungen an diese Jahre wären nicht so warm, wären sie nicht voll von Erinnerungen an meine russischen Freunde.

Ihre Lebenskunst und Lebenslust waren ansteckend. Die Kunst bestand darin, das Leben zu lieben und zu meistern. Es waren für sie schwierige Jahre kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die Desaster in Afghanistan und Chernobyl hatten einem korrupten System den Rest gegeben. Der Alltag war geprägt von wirtschaftlichem Niedergang und Mangelwirtschaft, die bereits die letzten Jahre der Sowjetunion geprägt hatte. Die Frage, wo man Brot oder Fleisch kaufen konnte, war genauso wichtig wie die Frage, woher man Aspirin bekommen sollte.

Ich war mit Veteranen aus dem Afghanistan Krieg mit ernsthaften PTBS Symptomen befreundet, mit Frauen, die zum ersten Mal in ihrem Leben eine Ananas gesehen und probiert hatten, mit Menschen, die durch das Wegbrechen des Systems verloren waren und zum Wodka griffen, und anderen, die mit der Grausamkeit des neuen kapitalistischen Systems direkt konfrontiert wurden, weil Großbetriebe aufgrund der wirtschaftlichen Lage keinen Lohn mehr zahlten. Ich war dabei, als ein Milizionär an die Tür klopfte und eine Freundin, die einen aufstrebenden Oligarchen geheiratet hatte, informierte, dass sein Kopf abgeschnitten in einem Abwasserkanal gefunden worden war.

Aber bei all dem Unglück und Mangel, bei all den verschiedenen Schicksalen, war eines immer da: diese unglaubliche Herzlichkeit, Kindlichkeit, Fröhlichkeit, Gastfreundschaft, dieses unglaubliche Talent, aus dem Nichts ein Etwas zu zaubern, das uns im Westen schon längst verloren gegangen war. Es waren goldene Sommer auf der Datscha, beim Marinieren von Schaschlik, der am Lagefeuer gebraten wurde, bei Gesprächen und Diskussionen bis zum Sonnenaufgang. „Wind of Change“ von den Scorpions dröhnte in einer Endlosschleife aus dem Kassettenrekorder. Nichts gibt besser die damalige Stimmung und Hoffnung wider als dieser Song.

Es waren historische Zeiten, als die Welt plötzlich frei wurde, magische Wochen und Monate. Meine russischen Freunde waren zwischen 25 und 45. Sie teilten mit mir alles, was sie hatten, unterstützten mich bei der Lösung aller Probleme, die sich vor mir, der Ausländerin, in der russischen Bürokratie auftaten und hielten mir die Treue über all die Jahre hinweg. Inzwischen haben alle ihren Weg gemacht, einige sind reich geworden, manche haben Russland verlassen, weil sie mit dem System nicht mehr zurechtkamen. Die magischen Momente der Jahre 1992 und 1993 sind nicht wiedergekommen, aber die Herzlichkeit und Innigkeit, die wir beim dreimaligen Küssen auf die Wange beim Wiedersehen fühlen, ist für immer geblieben.

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© Elisabeth Hofer 2020-09-27

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