11 Ausgehungerte Hyänen

Sina Geissbühler

by Sina Geissbühler

Story

SIE ist auf alles gefasst. Weshalb waren Frauen anderen Frauen gegenüber so feindselig gestimmt? Wäre es nicht wunderbar, wenn sich Frauen gegenseitig unterstützen würden, anstatt sich gegenseitig das Leben schwer zu machen? Es stossen immer mehr Verwandte dazu und SIE hört wie Sonja informiert, dass Selma den Job gekündigt hat. Ein Raunen geht durch die Menschenmenge. SIE ballt die Fäuste. Haben diese Leute kein eigenes Leben, um das sie sich scheren können? Ganz viele Fragen prasseln nun von überall her auf Selma ein. Wie geht es Sven? Wann heiratet ihr? Wann gibt es endlich Nachwuchs? Wie willst du die Miete bezahlen? Wieso lässt du deinen Freund alleine in den Urlaub fahren? SIE kann es nicht ertragen. Alle hacken regelrecht auf Selma ein. SIE hört nur, wie Selma irgendwelches Zeug stammelt. Selma fühlt sich in die Enge getrieben.

Selma schwirrt der Kopf. Was ist nur los? Weshalb haben es alle auf sie abgesehen? Erneut lässt sie den Blick wandern. Als sie ihre Mutter entdeckt, wirft Selma ihr einen wutentbrannten, vernichtenden Blick zu. Ohne auf das Geschnatter um sich herum zu achten, setzt Selma sich in Bewegung und lässt die Tratschweiber verdutzt zurück.

Die Gäste nehmen nach und nach an den vielen runden, feierlich gedeckten Tischen im Saal des Gasthofes Platz. Selma entdeckt in der Menge ihren einzigen Verbündeten, ihren Cousin Jan. Sie steuert auf ihn zu. „Kannst du mich von hier wegbringen?“, flüstert sie ihm ohne weitere Erklärung ins Ohr. Jan blickt sie an und sieht die Verzweiflung in Selma’s Gesicht. Ohne zu zögern, erhebt er sich und folgt Selma nach draussen.

Sie gehen gemeinsam über den in der Abenddämmerung liegenden Parkplatz. Jan wirft Selma einen besorgten Blick zu. „Was war denn da los? Die haben sich ja wie ausgehungerte Hyänen auf dich gestürzt.” Selma lacht verbittert auf. „Keine Ahnung. Jan, sei mir bitte nicht böse, aber ich habe im Moment keine Lust zu reden”, erwidert Selma erschöpft. „Alles klar. Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst”, entgegnet Jan verständnisvoll. Sie steigen wortlos ins Auto ein und fahren los. Jan fährt Selma zu der Wohnung ihrer Mutter. Als Jan vor dem Wohnblock sein Auto parkt, umarmt Selma ihn ganz fest. „Ich danke dir. Du bist mein Retter in der Not. Ich melde mich in den nächsten Tagen bei dir.“

Sie schleppt sich völlig erschöpft in die Wohnung und sucht schnell ihre Habseligkeiten zusammen. Danach tritt sie in die Finsternis hinaus und eilt zum nahe gelegenen Bahnhof. Sie hat Glück und erwischt noch rechtzeitig die Bahn, welche sie zurück nach Hause bringt.

Selma sitzt wie versteinert auf ihrem Sitzplatz. In Ihrem Kopf hämmert es unablässig. Die vielen Fragen zu ihrem Leben haben sie völlig überrollt. Aber noch verwirrender als die vielen Fragen war die Erkenntnis über ihre Familie. Wie hatte sie all die Jahre nur so blind sein können? Sie hatten ihr immer wieder eingetrichtert, wie sie zu sein hat. So wie sie war, war nie gut genug, egal wie sehr sich Selma bemühte und verbog.

© Sina Geissbühler 2022-08-26

Hashtags