Wann sein mentaler Wendepunkt erreicht war, konnte XX später ziemlich genau sagen. Seine Einsätze im Irak und noch mehr in Afghanistan waren blutig und brutal. Gefühllos schoss er auf seine Gegner, nur dem Auftrag verpflichtet. Das Ziel war ein Objekt – für ihn war es kein Mensch, nicht einmal ein Feind, es war ein Ding. Sein Schuss war immer präzise – genau zu treffen war für ihn eine Frage der Ehre, und je öfter er schoss, desto mehr Befriedigung verschafften ihm der Schuss und der Treffer. Traf ein Schuss einmal sein Ziel nicht, dann nur, weil sich das Opfer noch kurz bewegte. Das empfand er dann fast als persönliche Beleidigung. Er traf jede Stelle des Körpers, aus nahezu jeder Entfernung. Er war nicht ein, er war der Meister, er war unfehlbar, niemand konnte ihm “das Wasser reichen”.
Irgendwann bei einem seiner Einsätze – er hatte den gegnerischen Scharfschützen bereits fest im Visier – schien etwas nicht zu stimmen. Sein Gegenüber wirkte nervös, fuchtelte mit dem Gewehr, hatte kaum Tarnung angelegt, machte auf eine ihm unerklärliche Weise auf sich aufmerksam. So zu schießen widersprach seinen und allen Regeln. Dann erkannte er ihn, einen Jungen, vielleicht 14 oder 15 Jahre alt. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihn zu erschießen. Aber auf ein Kind zu schießen, kam für ihn nicht in Frage. Kein Kind war es in seinen Augen wert, im Krieg zu sterben, auch wenn es sich noch so ungeschickt verhielt. Er brach den Einsatz ab und erhielt ein Disziplinarverfahren wegen Befehlsverweigerung. Die Sinnlosigkeit dieser Einsätze wurde ihm immer bewusster. Doch anstatt aufzugeben, kam ihm die Idee eines Spezialschusses. Es musste doch möglich sein, den Gegner mit einem Schuss genau zwischen die Gehirnhälften außer Gefecht zu setzen und nicht zu töten, sondern nur zu betäuben. Er würde zwar mit Kopfschmerzen aufwachen, aber überleben. Der Schuss musste genau sitzen. Dazu brauchte er nicht explodierende Munition und Übung. Von nun an fand er Genugtuung, wenn er das Leben seiner Gegner verschonte.
Emmanuell beauftragte Marko, XX zu eliminieren, lud XX aber gleichzeitig zu einem Treffen ein, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Dass XX ein Killer war, erwähnte er Marko gegenüber nicht. Er setzte auf den Überraschungseffekt.
XX wusste nichts von Joãos’ Telefonat mit Amira und auch nicht, dass Emmanuell das Gespräch mitgehört hatte. Er wunderte sich nur über Emmanuells Wunsch, sich mit ihm zu treffen, was er sonst immer vermieden hatte. Sollte es eine besondere Mission geben? Im Krieg hatte XX nur überlebt, weil er neben seinem sicheren Schuss auch über einen ausgeprägten Instinkt verfügte. Und der sagte ihm jetzt, dass hier etwas nicht stimmte. Und so fuhr XX alle “Antennen” aus. Sollte Emmanuell ihn – aus welchen Gründen auch immer – beseitigen wollen? Unmöglich wäre das nicht. Er würde es ihm zutrauen, um Beweise zu vernichten.
Zwei Tage später spürte er das Auto mehr, als dass er es sah. Jemand verfolgte ihn, gab sich aber wenig Mühe, dies zu verbergen. Wahrscheinlich fuhr er sogar mit vorgehaltener Waffe.
Diese unübersehbare Verfolgung verwirrte XX nicht nur. Sie beleidigte ihn.
© Heinz-Dieter Brandt 2023-09-26