… und in ihrer grenzenlosen Leere bereit aufzunehmen- was auch immer. So meine Fantasie …. Seit langem versuchen Flüchtlinge aus Afrika da zu landen. Am Friedhof von La Oliva springen mir die namenlosen Urnengräber aus dem Jahre 2001 ins Auge. Africano nr.1 bis nr.10, steht hier vermerkt. In primitiven Holzbooten machen sie sich bei günstigen Winden aus Afrika auf den Weg. Viele werden nur noch tot an die Küsten gespült. Einmal sah ich so ein Boot und wusste erst gar nicht, WAS ich da sah! Zertrümmerte Holzplanken lagen am Strand von Pozo negro verstreut.
Friedhöfe erzählen ihre Geschichten ….
Dort, wo man mit dem Auto am schwersten hinkommt, liegt der entlegenste, wildeste Teil der Insel, durch einen hohen Bergkamm beschützt vor dem Massentourismus der Halbinsel Jandía. Der längste, durch die starken Strömungen wohl gefährlichste, aber schönste Strand der Insel ist genauso dort wie auch der höchste Berg, der Pico de la Zarza, 807 m hoch. Mich zieht es in die grandiose Einsamkeit dieser zerklüfteten Landschaft, deren einziger Ort Cofete ist, ein Dorf, das etwas Geheimnisvolles, Mystisches hat, beim Besuch sich aber nur als abgelegenes Dorf ohne besondere Highlights entpuppt. Ein Dorf für Aussteiger am ehesten.
Ich stehe hoch oben am Kamm der Bergkette und schau auf den vor mir tief unten liegenden langen Strand hinunter, ein wunderbarer Blick! Ein burgartiges Gebäude, das so gar nicht in dieses Gelände passt, fällt mir sofort auf: die geheimnisumwobene Villa Winter. Ein Relikt aus der NS-Zeit, einst ein gut getarntes einsames Versteck in jener Zeit? Was spielte sich hier damals wirklich ab?
Jedenfalls führt mein Weg daran vorbei. Früher dem Verfall preisgegeben, heute ein einsames Museum für Zeitgeschichte?
Weiter geht es, hinunter zum feinsandigen Strand. Von weit oben schon hört man den brüllenden Atlantik, die weiße Gischt der gebrochenen Riesenwellen klingt erstaunlich sanft im Flachen aus. Ein paar Junge sitzen da. Sie schauen aufs Wasser und baden ihre Zehen, mehr ist an diesem Tag nicht ratsam.
Ich gehe weiter, mein Ziel ist das Dorf.
Etwas abseits mitten im Sand liegt ein kleiner Wüstenfriedhof. Die steinerne Einfriedung ist an vielen Stellen längst von Wind und Sand zugedeckt. Trotzdem kann man noch hinein. Ich öffne mühsam das zugewehte Tor. Einige Gräber sind mit nackten Holzkreuzen versehen und mit schwarzen Steinen bedeckt. Längst vergessen und schmucklos warten sie, dass der Sand sie bald ganz verzehren wird.
Und dann sehe ich einen einzelnen Stein, zerbrochen, mit deutlich lesbarer Inschrift. Hier liegt eine Frau begraben, sie hieß María, so wie ich mit meinem zweiten Namen, gestorben an jenem Tag, an dem ich in einem anderen Teil der Welt geboren wurde. Bin ich die Fortsetzung ihres Lebens? Dieser Gedanke erfasst mich ganz plötzlich und lässt mich nicht mehr los. Wer war sie? Was hat sie gemacht? Wie hat sie hier gelebt? Ich werde es wohl nie erfahren. Mir ist, als ob ein Stück von mir auf dieser Insel ruht.
© Hedda Pflagner 2023-02-01