Richtig bedrĂŒckend empfand Marco Kowalski die Stimmung in dem dĂŒsteren Wohnzimmer von Arnold Semmering. Die WĂ€nde waren bis auf halbe Höhe mit dunklem Holz vertĂ€felt. DarĂŒber hingen JagdtrophĂ€en, ein ganzer Wildschweinkopf und viele Geweihe, dazwischen einige gerahmte Bilder, zumeist Fotographien in schwarz/weiĂ. Die Einrichtung bestand fast nur aus offenen BĂŒcherregalen. Es gab einen Metallschrank mit Sicherheitsschloss, wohl einen Waffenschrank, einen riesigen Ohrensessel, ein paar Beistelltischchen und einen alten Fernseher. Das Emblem der âSchwalbeâ war allgegenwĂ€rtig. Auf Mitbewohner oder GĂ€ste war der Hausherr offensichtlich ĂŒberhaupt nicht eingestellt, denn Sessel oder StĂŒhle fehlten ganz.
Weil der 90-jĂ€hrige so groĂzĂŒgig verkĂŒndet hatte, es gĂ€be bei ihm keine Geheimnisse, griff Marco Kowalski nach den Ledermappen, von denen mehrere auf den Tischchen lagen, zum Teil sogar aufgeschlagen. Eine davon enthielt Fotos, Zeitungsartikel und Dokumente, die sein Interesse weckten. Die Bilder zeigten immer eine Gruppe von sieben jungen MĂ€nnern in Feierlaune, das heiĂt mit Bierflaschen in den HĂ€nden und einer Mimik und Gestik, die den Schluss auf reichlich Alkoholgenuss zulieĂ. In den Zeitungsausschnitten war die Rede von der Suche nach einem 30-jĂ€hrigen MĂŒhldorfer, der vermisst, wohl aber trotz intensiver BemĂŒhungen nicht aufgefunden worden ist. In den Dokumenten ging es um GrundstĂŒcksvergaben und BaumaĂnahmen im Föhrenwinkel, dort, wo im westlichen Teil des ehemaligen Frauenlagers die alten UnterkunftsgebĂ€ude abgerissen worden waren.
âWas interessantes Gefunden?â, krĂ€chzte es plötzlich aus Richtung der WohnzimmertĂŒr. Kowalski zuckte zusammen, obwohl er kein schlechtes Gewissen haben musste. Semmering hatte ihn ja förmlich aufgefordert, sich umzusehen. âWar das die âSchwalbeâ?â, versuchte er möglichst unbefangen ein GesprĂ€ch in Gang zu bringen. Er zeigte dabei auf eines der Fotos aus der Ledermappe, auf dem die sieben MĂ€nner zu erkennen waren. âJa, das waren wir zu unseren besten Zeiten. Nach den Lagerfeuern unterâm Bunkerbogen sind wir meistens mit unseren Kreidler- und ZĂŒndapp-Mopeds, richtige MotorrĂ€der konnten wir uns nicht leisten, in den Föhrenwinkel gefahren und haben die SpieĂer dort bei ihren Tanzabenden ein wenig aufgemischt. Das war immer ein krönender Abschluss des Tagesâ, antwortete Semmering geradezu sentimental.
âHat sich die Clique denn irgendwann aufgelöst oder sind Sie noch in Kontakt?â, interessierte sich Kowalski weiter. âJetzt wirst du mir doch ein wenig zu neugierig, BĂŒrschchen!â Mit dieser Bemerkung kippte bei Arnold Semmering urplötzlich die Stimmung. Er hatte sich kurz einem Regal zugewandt und als er sich umdrehte, hielt er eine Pistole in der Hand, die er, ein wenig zitternd zwar, aber dennoch gefĂ€hrlich auf Marco Kowalski richtete. âWenn du die Vergangenheit nicht ruhen lassen kannst, dann muss ich andere Seiten aufziehenâ.
© Hermann Karosser 2022-05-14