by Daniel Feik
Der Abend der Premiere. Hinter der Bühne schnattern und flattern alle wie nervöse Gänse herum. Peters Mutter hat voller Stolz die ganze Verwandtschaft eingeladen.
Alle sind besonders gespannt auf den Flug am Ende des Stücks.
Der Vorhang hebt sich. Peter beobachtet von der Seite der
Bühne Nathalies Solo. Sie sieht aus, wie ein Engel. Peter kann seinen Blick nicht von ihr wenden. Er hätte sie damals küssen sollen. Er kneift sich in Hände: Konzentriere dich! Sonst verbockst du es! Alles, was du dir je gewünscht hast, könnte heute in Erfüllung gehen. Er massiert sich das Gesicht. »Pass auf! Deine Schminke!«, schimpft die Maskenbildnerin, von hinten. Nathalie hat fertig getanzt. Sie geht an ihm vorbei, sieht ihn aber nicht an. Seit dem Vorfall im Probensaal geht sie ihm noch mehr aus dem Weg, als zuvor. Ihr Duft schwebt in seine Nase. Macht ihm Gänsehaut. Schmetterlinge flattern in seinem Bauch. Plötzlich erkennt er das musikalische Motiv. Um ein Haar hätte er seinen ersten Auftritt verpasst. Er verflucht sich und seine mangelnde Konzentration.
Bei der Traumsequenz mit Nathalie kann er sich gar nicht auf die Schritte konzentrieren. So sehr er es auch versucht: sobald seine Finger ihre Haut berühren hat er das Gefühl, dass alles um sie beide dunkel wird. Er presst immer wieder die Augen zusammen, damit er sich daran erinnert, wer heute aller im Publikum sitzt und wie wichtig der Abend für seine Karriere ist. Doch als er sie nach der Hebung heruntergleiten lässt, verliert er sich in ihrem Blick. Ihm stockt der Atem. Er hat keine Kontrolle mehr über die Choreografie. Erst als das Publikum applaudiert, registriert er, dass der Tanz schon vorbei ist.
Noch völlig außer Atem beobachtet Peter das folgende Pas de deux zwischen Andrej und Nathalie.
Sie wird von Andrej in die Höhe gehoben. Dieser zittert, doch er kann sie in der Luft halten. Nathalie kämpft mit dem Gleichgewicht. Peter macht zwei Schritte seitwärts, Nathalie sieht auf einmal zu ihm und er übersieht ein Bühnenteil, über welches er sehr ungeschickt fällt. Als er sich wieder aufrappelt, sieht er gerade noch, wie Nathalie die Lippen aufeinander presst. Als müsste sie sich ein Lachen verkneifen.
Hinter der Bühne beginnt Andrej zu toben. Er macht Nathalie Vorwürfe, dass sie nicht bei der Sache ist. Dass sie ihn verunsichert habe. Er würde ihretwegen aus der Oper fliegen.
Wofür tanzt du, wiederholt Peter Marius’ Worte, als man ihm das Fluggeschirr anlegt. Andrej hat sich nichts sehnlicher gewünscht, als zu tanzen. Seine Wünsche wurden nicht nur erfüllt, sondern sogar übertroffen. Und trotzdem wirkt er unzufrieden. Nathalie sieht Peter plötzlich an. Es wirkt, als hätte sie soeben das gleiche gedacht wie er. Sie lässt Andrej stehen und geht auf Peter zu. Er will sich schon dafür entschuligen sie abgelenkt zu haben, als sie seinen Kopf ihn ihre Hände nimmt und ihn küsst. Musik erklingt. Dann springt sie auf die Bühne und tanzt, wie jemand dessen Wunsch gerade in Erfüllung gegangen ist.
© Daniel Feik 2022-08-31