1943 im Dorf der Auswanderer

Anne Michel

by Anne Michel

Story

Friedlich schläft die 2 Monate alte Ida in ihrem Körbchen. Von der hektischen Betriebsamkeit um sie herum bekommt sie wenig mit. Jedoch ihr dreijähriger Bruder und die fünfjährige Schwester verfolgen das für sie sehr rätselhafte Verhalten der Erwachsenen, mit großen, angstvollen Augen. Die gesamte Dorfgemeinschaft ist in hellem Aufruhr. Verzweiflung, Unsicherheit, ja Panik macht sich breit. Viel Zeit zum Verladen der Habseligkeiten bleibt ihnen nicht, denn die russische Armee steht zum Einmarsch bereit an der ukrainischen Landesgrenze. Idas Vorfahren kamen ursprünglich aus Kandel, einer Kleinstadt im Süden der Pfalz. Sie waren, wie so viele andere, dem Lockruf des russischen Kaisers Alexander des I. gefolgt. Der Gründungstag der schwarzmeerdeutschen Kolonien im Umkreis von Odessa ist der 17. Oktober 1803. So steht es in den Geschichtsbüchern. Der Monarch kaufte in der dortigen Umgebung für die Einwanderer geeignetes Land an. Insgesamt wurden ca. 80 000 ha Grund und Boden an die Neuankömmlinge verteilt. Ausgestattet mit dem Privileg der Kolonisten, siedelnden sie sich in den von ihnen neugegründeten eigenständigen Ortschaften an. In der von Landwirtschaft und Viehzucht geprägten Region lebten die Aussiedler von dem Ertrag ihrer Hände Arbeit. An ihrer Religion, die sie aus Deutschland mitgebracht hatten, hielten die Menschen eisern fest. So ist es nicht verwunderlich, dass die Kirche der kulturelle Mittelpunkt in ihrem Leben war. In Ermangelung staatlicher Schulen entstanden nach und nach kirchliche Bildungseinrichtungen. Der dortige Unterricht war eng mit der Kirche verbunden und trug erheblich dazu bei, dass die deutsche Sprache durch den Gebrauch der mitgebrachten Bibeln und Gesangbücher über die Jahrhunderte erhalten blieb. 1871 fiel das Privileg der Kolonisten weg und die Einwanderer wurden den russischen Bürgern gleichgestellt. Idas Vorfahren wohnten in einem kleinen Dorf mit Namen «Schazi». Die nächstgrößere Stadt Mannheim ist ca. 30 km entfernt. Bis zu der am Schwarzen Meer gelegenen Stadt Odessa sind es gerade mal 80 km.

Die Oktoberrevolution vom 25. Oktober 1917 Jul. Kalender / 7. November 1917 Greg. Kalender, veränderte das Leben in der deutschen Kolonie grundlegend. Mit dem Wechsel des politischen Systems wurde aus dem kleinen Dorf eine Kolchose. Alle Güter, die nach dem Gutdünken der Bolschewiken, die Grenze der erlaubten persönlichen Besitztümer überschritten, wurden beschlagnahmt und einem anderen Zweck zugeführt. Welchem, ist nicht näher bekannt. Eine Entschädigung bekamen die fassungslosen Dörfler nicht.

Gegen die Willkür zu protestieren hätte die Lage der Menschen verschlimmert. Die Familien hatten sich mit der neuen politischen Lage arrangiert. Sie bearbeiteten wie gewohnt ihre Scholle und brachten es durch ihren Fleiß zu einem kleinen Wohlstand. Da sie sich von dem ernährten, was sie anbauten, lebten die Bewohner fast autark und vergleichsweise angenehm.

© Anne Michel 2022-12-30

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