4. Ein Biochemiker kann alles

Dr. Julia Tschirka

by Dr. Julia Tschirka

Story

Biochemie schien die Antwort auf alle meine Fragen zu haben und noch mehr: Mit Biochemie konnte man Krankheiten verstehen und heilen. Zumindest nach meinem Verständnis. Da Biochemie so umfangreich als Studienfach und so mächtig als Instrument war, prägte sich unter den Biochemikern unserer Gruppe ein Spruch ein: „Ein Biochemiker kann alles.“ Damals wusste ich noch nicht genau, was dieser Ausdruck für mich bedeutet. Wenn ich an die Jobsuche in meinen ersten Jahren nach dem Studium und später nach der Promotion denke, dann paraphrasiere ich diesen Ausdruck zu: „Ein Biochemiker kann alles und nichts“ oder nach der Quantentheorie: „Ein Biochemiker ist überall und nirgendwo“.

Während meines Studiums, meiner Promotion und danach sah die Situation auf dem Arbeitsmarkt sehr bescheiden aus. Seit dem Beginn des Studiums im Jahr 2009 bis 2024, also innerhalb von fünfzehn Jahren, wechselte ich über Dutzende Jobs und kann mit einem guten Gewissen sagen: Ein Biochemiker kann wirklich ALLES.

Wenn er will. Und wenn man ihn machen lässt.

Einige meiner Jobs hatten sogar etwas mit meinem Studium zu tun, dazu zählen: studentische Hilfskraft für Praktikantenbetreuung, Wissenschaftliche Mitarbeiterin oder Forscherin, Lektorin, Eventmanagerin für wissenschaftliche Konferenzen, Betreuerin des Graduiertenprogramms für Doktoranden, Spezialistin für Medizinische Information, Beraterin für die Forschungsförderung. Andere Jobs und Aufträge hatten nichts mit Biochemie zu tun: Ghostwriterin, Übersetzerin, Beraterin für ukrainische Musik und Kultur, Autorin, Rednerin, Fotografin, Tänzerin und Schauspielerin. Ich denke, die Liste ist nicht vollständig.

Vermutlich geschah es unbewusst, doch ich habe stets versucht, dem Ausdruck „Ein Biochemiker kann ALLES“ gerecht zu werden.

Im Laufe der Jahre habe ich eine interessante Beobachtung gemacht: Je mehr ich ausprobierte und je fortgeschrittener ich in meinem Studium und im Beruf war, desto mehr verschwanden die Grenzen zwischen den einzelnen Fächern und Disziplinen.

Ich habe Fotos mit der gleichen Sorgfalt und Genauigkeit gemacht, sowohl von meinen Reisen als auch von meinen Zellen oder von den Kristallen unter dem Mikroskop im Labor. Ich hielt auf den BĂĽhnen mit der gleichen Begeisterung die Vorlesungen ĂĽber pharmakologische Wirkung biogener Halluzinogene wie motivierende Reden ĂĽber Liebe, Leben und Beziehungen.

Was all meinen Tätigkeiten gemeinsam blieb, war die Liebe zum Detail, eine starke Beobachtungsgabe, Kreativität, Durchhaltevermögen und die Neugier auf das Unbekannte. Leider lässt sich das so weder im Lebenslauf noch als universelle Antwort im Vorstellungsgespräch formulieren. Unternehmen bevorzugen in der Regel Bewerber, die exakt auf die ausgeschriebene Position zugeschnitten sind – und keinen Freigeist.


© Dr. Julia Tschirka 2025-02-28

Genres
Biographies
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Abenteuerlich, Inspirierend
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