by Xandi Pani
Am liebsten würden all meine Gefühle auf einmal aus mir heraussprudeln, doch ich konnte nicht riskieren, dass ich Bene damit überfordern und er Abstand suchen würde. Das würde ich an seiner Stelle vermutlich tun, wenn ich mit jemandem ins Gespräch kam, den ich nicht wirklich kannte und dieser jemand mir trotzdem sein ganzes Leben offenbarte. Also beantwortete ich ganz einfach die Fragen, die ich ihm zuvor gestellt hatte. „Also ich bin Flo, wohne hier im ersten Stock, zweites Fenster von rechts, mache gerade meinen Schulabschluss und habe mehr Angst vorm Fallen als vorm Aufprall.“ „Wieso?“, fragte er neugierig. „Während des Fallens kann man es noch bereuen. Wenn man aber schon unten angekommen ist, dann ist da nichts mehr, worüber man sich Sorgen machen müsste.“ „Fair.“, meinte er, als er seinen Blick wieder von mir abwandte und in die Ferne starrte. Es wirkte fast so, als würde er über meine Worte nachgrübeln bis er schließlich sagte: „Wollen wir nicht langsam wieder nach drinnen gehen, denn es ist eiskalt hier oben. Oder willst du noch etwas erledigen?“ Erst als er es sagte, fiel mir auf, dass auch er viel zu luftig angezogen war für eine frische Frühlingsnacht. Die Ärmel seines dunklen Hemds waren hochgekrempelt und der dünne Stoff konnte ihn kaum warm halten. Ich schüttelte den Kopf. „Wir können gehen!“, murmelte ich und rutsche auf der engen Dachkante umher. Ich konnte so etwas wie Angst in seinem Blick sehen, als er mich dabei beobachtete, wie ich mich am Rand eines siebenstöckigen Gebäudes umdrehte, sodass ich mit dem Rücken zum Abgrund saß. Wie ein Gentleman bot er mir seine kräftige Hand an und ich konnte sehen, wie sich sein ganzer Körper entspannte, als ich sie nahm und mich daran hochzog. „Mach so etwas nie wieder!“, verlangte er mit sanfter tiefer Stimme während er mich zur Tür ins Treppenhaus geleitete, durch die wir wohl beide das Dach betreten hatten. „Was denn? Die Sterne anschauen?“, fragte ich und setzte dabei eine Unschuldsmiene auf. Er verdrehte demonstrativ die Augen und ich musste unwillkürlich kichern. „Du weißt ganz genau, was ich meine!“ Wir wurden beide ganz ernst und schauten einander an. „Ich mache es nicht wieder, versprochen!“, nuschelte ich, während ich meinen Blick über den gefliesten Boden schweifen ließ. Bevor ich mich versah, nahm er mein Gesicht mit einer Hand und zwang mich, ihn anzuschauen. Sein perfekt geformtes Gesicht, seine dunklen langen Wimpern, seine haselnussbraunen Augen, sogar den Ansatz seiner rasierten Bartstoppeln konnte ich trotz des diffusen Lichts ausmachen. „Sag das noch einmal. Und schau mich diesmal dabei an!“, befahl er und obwohl seine Stimme sanft war, hatte sie trotzdem etwas Herrisches in ihr, was mir nicht die Chance gab, noch einmal wegzublicken. Also starrte ich tief in seine dunklen Augen, die in dem Licht fast schon schwarz wirkten. „Ich mache es nicht wieder.“, sagte ich mit fester Stimme, sodass ich fast selbst davon überzeugt war. „Versprochen?“ „Versprochen!“ Und in diesem Moment meinte ich das Versprechen auch todernst.
© Xandi Pani 2023-08-23