4. Weiß

Anne-Sophie Blanke

by Anne-Sophie Blanke

Story

Sein Blick verschleierte sich, seine Gedanken schweiften in die Ferne. Er wusste, dass ich recht hatte. Natürlich, das war sein ursprünglicher Plan gewesen, als er heute Morgen aus dem Bett gestiegen war. Er wollte dieses Leben beenden, sich aus dem unendlichen Schmerz und der kalten Traurigkeit, die Hand in Hand mit der dunklen Einsamkeit ging, flüchten. Es hatte alles keinen Sinn mehr. Ein tiefer Seufzer löste sich aus seiner Lunge. „Ich weiß nicht, warum du hier bist, Mortimer. Aber du kannst mich nicht davon abhalten. Es ist beschlossene Sache und nichts wird meine Meinung ändern können“, erklärte er grimmig. Ich verdrehte die Augen. Benjamin Borchert sollte sich nicht so wichtig nehmen. Er war mehr als durchschnittlich, beinahe schon die lebendig gewordene Langeweile, so wie man sie sich in menschlicher Form eben vorstellte. Ich feixte: „Keine Sorge, alter Freund. Ich will dir beim Sterben helfen, nicht dich vom Gegenteil überzeugen.“ Verdutzt hob Benjamin den Kopf. Er hatte mit allem gerechnet nur nicht damit. In den Augen seiner Kollegen und Freunden war er wohl eher ein Versager, das wusste er, das hieß allerdings nicht, dass er die Hilfe eines selbstgefälligen Fremden brauchte. Besonders nicht von einem, der aus seinem Spiegel gekrochen war. Er musterte Mortimer aus dem Augenwinkel. Er stand an die Wand gelehnt da und gähnte gelangweilt. Gott, er war zum Kotzen. Aber vielleicht war er auch hilfreich. „Also gut“, willigte Benjamin ein, „Du kannst mir helfen, allerdings nur, wenn es darum geht, die sinnvollste Methode zu wählen“. Er versuchte bestimmt zu klingen, selbstbewusst. Ihm gelang es nur partiell. Ich nickte. „Woran hast du denn gedacht? Ich hätte sonst den Klassiker, den Strick, vorgeschlagen“, sagte ich leichthin. Benjamin erschauderte. Er dachte ein Weilchen darüber nach. Schließlich stimmte er zu und verschwand in seinem Schlafzimmer, um sich ordentlich anzuziehen. Natürlich hatte unser Benjamin Borchert kein Seil zu Hause. Durchschnittlich wie er war, besaß er keinerlei handwerkliches Geschick, das über den normalen Nagel in der Wand, hinaus gegangen wäre. Beinahe machte mich dieser Gedankte traurig. Aber auch nur beinahe. Neugierig sah ich mich in der Wohnung um. Die Küche wies einen kleinen Holztisch mit genau einem dazugehörigen Stuhl auf. Im Wohnzimmer stand eine Doppelsitzcouch, ein niedriger Tisch und gegen über befand sich ein Fernseher. Die Wände waren in kargem weiß gehalten, die Möbel wechselten zwischen braun, grau und schwarz. Der einzige Farbklecks bestand aus einem Foto. Stirnrunzelnd schlenderte ich darauf zu. Eine junge Frau war darauf abgebildet. Sie strahlte voller Leben und Freude in die Kamera. „Hey Benjamin. Hast du das Foto von deiner Freundin gemacht?“, rief ich in Richtung seines Zimmers. Keine Sekunde verging, da flog die Tür krachend auf und er kam herausgeschossen. „Das geht dich einen feuchten Dreck an. Lass die Finger von ihr“, fauchte er aufgebracht. Grinsend hob ich die Hände. Da hatte ich einen wunden Punkt getroffen. „Ist ja gut. Komm, sterbender Mann. Wir müssen in den Baumarkt, dir ein Seil besorgen“, sagte ich unbekümmert. Benjamins Augen verdunkelten sich kaum merklich. Dieser Blick ließ mich zögern. „Ich fahre“, bestimmte ich, „Wir wollen das mit dem Sterben nicht überstürzen, nicht wahr?“. Benjamin Borchert nickte nur.


© Anne-Sophie Blanke 2024-09-06

Genres
Novels & Stories
Moods
Dunkel, Emotional, Hoffnungsvoll