5. Die Metallschatulle

“Man konnte sich die Ursache nie wirklich erklären, angeblich ein Kurzschluss aufgrund einer schlechten Verkabelung. Der gesamte westliche Flügel stand in Flammen. Ihre Leiche war völlig verkohlt.” Er blickte auf das frisch gemachte Bett. “Wenn Sie mich fragen, sind das ziemlich viele Ungereimtheiten. Zunächst der Brand am Set. Dann – ein Jahr später – der Brand hier. Fast schon so, als wollte ihr irgendjemand etwas antun … Und hätte es erst beim zweiten Versuch zu Ende gebracht. So viele ungelöste Fragen. So viel Spekulation. Selbst jetzt – knapp zwanzig Jahre später. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass aus ihrem Ableben Geistergeschichten entstanden sind. Berühmt zu Lebzeiten, berüchtigt im Tod.”
“Und?”, wollte Marianne wissen und kam auf Charlie zu, “wie sehen Sie das alles?”
“Wie bereits gesagt, ich möchte ihre Geschichte erzählenswert inszenieren. Spannend. Aber ich würde Isadora niemals ins schlechte Licht rücken wollen. Ich möchte ihr sozusagen ein Denkmal setzen. Einen filmischen Abgesang. Ich werde Ihnen später beim Dinner das Drehbuch geben. Das Ende jedoch; werde ich noch für mich behalten. Es sollte für alle Beteiligten eine Überraschung bleiben, bis es so weit ist.” Er unterdrückte ein Lächeln, wie ein kleiner Junge, der seine Überlegenheit verbergen wollte. Dann sah er Marianne freudig an. Er wirkte aufgekratzt, beinahe hibbelig, als hätte er zu viel Kaffee getrunken. “Aber nun lasse ich Sie kurz allein. Ich muss noch etwas vorbereiten, bevor die anderen eintreffen. Danach werden wir den heutigen Abend für die erste Szene nutzen. Ruhen Sie sich so lange aus oder sehen Sie sich in Sycamore Manor um. Es gibt hier so vieles zu entdecken. Als wäre man in einem Museum, das die besten Exponate versteckt hält.” Er zwinkerte ihr zu. “Sie warten nur darauf, von jemandem entdeckt zu werden.” Mit diesen Worten ließ er sie allein im Zimmer zurück. Marianne setzte sich an die Bettkante und atmete tief durch. Sie ließ sich langsam zurückfallen, starrte auf den Baldachin und dachte an die letzten Stunden mit Charlie. “Nicht nur du steckst voller Geheimnisse, Isadora”, sagte sie zum leeren Zimmer. Sie schloss die Augen. Ihre Gedanken wirbelten in ihrem Kopf herum, wie wild gewordene Vögel. Wurde Isadora wirklich das Opfer eines Verbrechens? Wer könnte ihr etwas angetan haben? Weshalb wollte Charlie das Ende seines Drehbuches noch nicht preisgeben? War wirklich der Überraschungseffekt der Grund dafür? Und woher hatte er die Narbe auf seiner Wange? Marianne schlug die Augen auf und zwang sich dazu, ihre zusammenhangslosen Gedankengänge zu stoppen. Sie richtete sich auf und ihr wurde von der raschen Bewegung ganz schwindelig. Während sie langsam aufstand und zu ihrem Koffer ging, fragte sie sich, wie die anderen von der Filmcrew wohl sein mochten. Und ob sich alle bereits kannten und sie die Einzige wäre, die neu im Showbusiness war. Weshalb er mich wohl ausgesucht hat, obwohl ich noch keinerlei Erfahrung habe? Und warum er mich wohl so früh hierher bestellt hat, obwohl die anderen erst am Abend eintreffen? Nur, um mir das Anwesen zu zeigen? Marianne schüttelte den Kopf und biss sich auf die Unterlippe, als sie den Koffer öffnete. Wieso sich weiterhin so viele Gedanken machen, auf die ich sowieso keine Antwort finden werde? Sie nahm ihr Schminktäschchen aus dem Koffer und öffnete die kleine Metallschatulle mit den Schlaftabletten, die sie gegen ihre Albträume nahm.