5 – Lorelie

Selina Schikor

by Selina Schikor

Story

Die nächste Schicht im Krankenhaus ist anstrengend. Ich könnte es darauf schieben, dass ich unter akutem Schlafmangel leide und viel zu viel nachdenke, aber das ist es nicht. Seit dem Unfall macht mir meine Arbeit einfach keinen Spaß mehr und ich kann es kaum ertragen, im Krankenhaus zu sein. Meine einstige Bestimmung fühlt sich jetzt so unfassbar falsch an.

Ärztin sein, Leben retten.

Einen Unfall bauen, Leben beenden.

Wie soll ich mir nicht wie eine enorme Heuchlerin vorkommen? Hoffentlich hilft mir das Ehrenamt dabei, dass ich wieder besser mit mir klarkommen kann. Beim Gedanken an das Ehrenamt schleicht sich automatisch Finn in mein Bewusstsein. Gott, er muss mich für völlig komisch halten, dass ich eine Tätigkeit in einem Bereich ausüben will, indem ich keinerlei Erfahrung habe. Und das auch noch unbezahlt, obwohl ich Ärztin bin und wahrlich genug Zeit auf der Arbeit verbringe. Eigentlich kann es mir gleichgültig sein, was er von mir denkt. Schließlich will ich ihm nicht gefallen. Ich will nur, dass sich diese Schuld, die mich in die Tiefe zu ziehen vermag, etwas verkleinert und die Last auf meinen Schultern geringer wird. Doch trotzdem will ich irgendwie nicht, dass er mich für einen Freak hält. Im Gegenteil ich will, dass Finn mich mag. Diese Erkenntnis trifft mich vollkommen unvorbereitet und hinterlässt ein flaues Gefühl in meinem Magen.

Das Gefühl verschwindet auch nicht, als ich bei meiner Therapeutin ankomme. „Wie fühlst du dich heute?“ Das ist immer die erste Frage des Gesprächs und ich zucke bloß mit den Schultern, denn ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich mich fühle. „Lorelie, du musst schon mit mir reden, damit ich dir helfen kann“, merkt meine Therapeutin an. Als ob ich das nicht wüsste. Ihre Worte machen mich wütend. Nein nicht ihre Worte, sondern die Tatsache, dass ich keine Antwort geben kann. Deswegen gebe ich ihr einen schnippischen Kommentar: „Was, wenn ich keine Hilfe will?“ Ihr Blick liegt ruhig auf mir und scheinbar führt sie eine komplette Analyse meines Verhaltens aus, denn ich kenne diesen Blick mittlerweile ganz gut und weiß, was er zu bedeuten hat. Sie räuspert sich, bevor sie etwas erwidert: „Willst du wirklich keine Hilfe oder denkst du, dass du keine Hilfe verdient hast, weil du Schuld an dem Unfall hast? Denn das ist Schwachsinn und tief in dir weißt du das auch. Jeder Mensch hat Hilfe verdient, egal welches Schicksal er durchlebt hat. Es ist kein Zeichen von Schwäche Hilfe anzunehmen. Im Gegenteil, es ist ein Zeichen von Stärke und Mut.“ Die Worte trieben mir Tränen in die Augen. Ich hasse es, dass ich mich so fühle – so verloren, so allein. Den Rest der Stunde verbrachten wir damit, darüber zu sprechen, warum es mir so schwerfällt Hilfe anzunehmen.

Nach der Stunde fühle ich mich komplett ausgelaugt und doch sträubt sich etwas in mir gegen den Gedanken, jetzt einfach nach Hause zu gehen. Ohne weiter darüber nachzudenken, rufe ich Finn an, vielleicht kann ich ihm ja heute schon bei der Arbeit helfen.

© Selina Schikor 2022-12-04