Nach einer Mittagspause, die aus Onigiri-Reisbällchen besteht, die Yukis Großmutter für uns gemacht hat, setzen wir unseren Weg fort und begegnen immer wieder netten Anwohnern, die uns in ein Gespräch verwickeln, Helfern, die uns die Richtung weisen oder anderen Pilgern, die vermutlich genauso aufgeregt sind, wie ich mich fühle. Ein schattiger Bambushain und Pfade durch Felder bringen uns schließlich zum Dainichiji. Als wir den Tempel wieder verlassen, dämmert es bereits und hinter uns werden die Tore verschlossen.
Die Nacht verbringen wir in einer Pilgerunterkunft. Wie in traditionell japanischen Häusern üblich, sind die Zimmer mit Tatami ausgelegt, rechteckigen Matten aus Reisstroh. Um einen kniehohen Tisch liegen Sitzkissen verteilt, auf denen wir Platz nehmen, uns ein wenig stärken und den nächsten Tag planen. Futons für die Nacht warten zusammengelegt an der Wand. Die einzelnen Zimmer sind mit Schiebetüren voneinander getrennt und könnten bei Bedarf in einen einzigen, großen Raum verwandelt werden. Den Flur hinunter liegt das Gemeinschaftsbad. Badezimmer sind in Japan in zwei Räume aufgeteilt. Im vorderen befinden sich meist Waschbecken und Waschmaschine, im hinteren Dusche und – in Japan besonders geschätzt – die Badewanne. Letztere benutzt man, nachdem man geduscht hat.
Der nächste Tag bringt anstrengende Abschnitte mit sich, viel Sonne und Hitze. Mit jedem Kilometer wird mein Rucksack schwerer und schwerer. Yuki meint, ich sähe damit aus wie eine Schildkröte und irgendwie fühle ich mich auch so. Mein ganzes Leben für die nächsten Wochen steckt darin, gleich einem Haus, das ich mit mir herumschleppe. Befreiend, wenn man sich um keinen übrigen Besitz zu sorgen braucht, aber ermüdend zu tragen. Allmählich schleicht sich die Frage ein, ob ich mich mit dieser Reise nicht völlig übernehme. Doch belohnt jeder neue Tempel, den wir erreichen, meine Mühen. So ist es die Lehre der Schildkröte, in der ich mich gleich zu Beginn üben muss: Geduld.
Unser letzter gemeinsamer Tag bringt Yuki und mich zu Tempel 10 und 11. 333 Stufen führen zu den Hallen des Kirihataji hinauf. Ein Ladenbesitzer bietet uns an, unsere Rucksäcke bei ihm zurückzulassen und auf der Rückkehr wieder abzuholen. Mit den Eigentümern des Geschäfts unterhalten wir uns noch eine Weile und bekommen sogar süße Teigtaschen als Osettai geschenkt.
Der Weg durchschneidet riesige Gemüsefelder und überquert als enge Brücke den Fluss Yoshino. Es geht durch Wohngebiete, hinein in einen dunklen Kiefernwald und zu einem Pilgerdorf, neben dem der Fujiidera steht. Wir treffen auf den Amerikaner Edward. Er wandert den Ohenro bereits zum zweiten Mal und obwohl wir uns nach einem kurzen Gespräch voneinander verabschieden, treffen Yuki und ich ihn schon etwa eine halbe Stunde später erneut. Wir wollen zum Bahnhof, um zu Yukis Großmutter zurückzufahren, er steht vor dem Eingang zu seiner heutigen Unterkunft. Was ein Zufall! Wir tauschen Handynummern aus, dann begeben Yuki und ich uns zum Zug. Ihre Großmutter hat für uns gekocht und wir verbringen einen erholsamen Abend. Morgen schon muss Yuki nach Tokyo zurück.
© Karina Pohlmann 2025-02-21