5. Versager

Marica Tomiak

by Marica Tomiak

Story

Zwei Absätze, das ist alles, was Daniel bisher zu Papier gebracht hatte. Es war 21:00 Uhr und der Abgabetermin für seine Hausarbeit war morgen, um Punkt 23:59 Uhr. Ihm blieben also noch etwas mehr als 24 Stunden, um fünfzehn Seiten über das Potenzial von Big Data in der Produktion zu schreiben. Wenn er es nicht schaffte, dann würde er endgültig exmatrikuliert werden. Dies war sein letzter Versuch.

Seinen Eltern hatte er nicht erzählt, wie kurz er vor dem Versagen stand. „Versager“, das wäre genau der Begriff, den sein Vater Ewald ihm ins Gesicht schleudern würde, wenn er erführe, dass sein Sohn das Studium nicht packte. Im Grunde hielt er ihn doch ohnehin schon für einen Versager. Daniel war 24 Jahre alt und im zehnten Semester. Das war nicht die straffe Karriere, die sein alter Herr für ihn geplant hatte. Ewald hatte im Alter von 24 Jahren schon längst eine eigene Firma gegründet und wurde nicht müde Daniel daran zu erinnern. Schließlich sollte sein Sohn diese Firma eines Tages übernehmen. Das stand schon seit seiner Geburt fest.

Eigentlich hätte Daniel dort schon längst mit anpacken sollen. Gemäß dem Wunsch seiner Eltern hatte er direkt nach dem Abitur ein Studium aufgenommen, um sich auf seine spätere Rolle vorzubereiten. Sein Vater bezahlte die Miete für eine großzügige Stadtwohnung in bester Lage und er überwies ihm auch sonst genug Geld, damit sein Sohn sich in der Großstadt „die Hörner abstoßen“ konnte. Alles, was Ewald im Gegenzug dafür verlangte, war ein Bachelorabschluss in der Regelstudienzeit. Das war doch nicht zu viel verlangt, fand er. Schließlich musste Daniel, Dank Ewalds Großzügigkeit, nicht neben dem Studium arbeiten und er musste sich auch nicht als Arbeiterkind alleine im Hochschuldschungel durchkämpfen, so wie er selbst dereinst. Und durch die Bologna-Reform konnte er die Uni schon nach lächerlichen drei Jahren mit einem grundständigen Abschluss verlassen – zumindest theoretisch. Praktisch war Daniel auf dem besten Weg zu einem Langzeitstudenten. Doch Ewald hatte diese Fehlentwicklung vor einem Jahr rechtzeitig erkannt und reagiert. Er hatte Daniel die Mittel gekürzt, sodass dieser nun gerade noch genug Geld bekam, um die Miete in einer spartanischen Einzimmerwohnung am Stadtrand zu bezahlen. So konnte er sich auf das Wesentliche konzentrieren und endlich lernen, Verantwortung für sich zu übernehmen. Das hätte Ewald seinem Sohn schon viel früher vermitteln sollen, statt ihn mit seinen Zuwendungen zu verweichlichen. Doch besser spät als nie.

Lautes Geschrei drang aus der Nachbarwohnung und riss Daniel aus seinen Gedanken. Die Nachbarn stritten schon wieder. Das konnte länger dauern. Mit seiner Konzentration war es gerade ohnehin nicht weit her. Vielleicht war es besser, erst einmal eine Pause zu machen. Vielleicht fühlte Daniel sich danach inspirierter und geriet in eine Art Schreibflow und konnte sein Studium doch noch retten. Einen Versuch war es Wert, seinem Vater zuliebe.

© Marica Tomiak 2022-08-28

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