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Anna Heise

by Anna Heise

Story

Anja hatte sich vorgestellt, ein Kind im Bauch würde sich eklig anfühlen. Wie ein Parasit, irgendein widerliches Tierchen aus dem Amazonas-Dschungel, das Eier unter die Haut legt, die dann dort wachsen und aufplatzen und plötzlich krabbeln ganz viele Larven in einem herum. Aber sie fühlte das Kind in ihrem Bauch nicht und nun hoffte sie, sie würde auch nicht fühlen, wenn es nicht mehr da wäre. Die Sprechstundenhilfe reichte ihr den Anamnesebogen.

Name: Anja Drehmann.

Alter: 15, trug sie dort ein.

Über die Schulter blickte sie aus dem Lamellenverhangenem Fenster. Der Mercedes war nicht zu sehen, ihre Eltern hatten auf dem Supermarktparkplatz geparkt und waren im Auto geblieben. Ihre Mutter würde rauchen. Süffisant wie eine Diva aus den fünfziger Jahren. Ihr Vater würde etwas brummeln und dann in den Supermarkt gehen und irgendetwas kaufen, was kein Mensch brauchte, eine Zwiebel oder eine Flasche Bourbon beispielsweise.

Nehmen Sie regelmäßig Medikamente ein?

Stand da auf dem Fragebogen.

Nein. Schrieb Anja und dann weiter:

aber hätte ich gerne: die Pille.

Sie legte das Klemmbrett zurück auf den Tresen und folgte der Sprechstundenhilfe in den hinteren Bereich der Praxis.

Zeitgleich saßen die Auweiler Kinder im Deutschunterricht:

Schreibe einen Aufsatz über dich selbst. Stand auf dem Arbeitsblatt. Thema: Mein jetziges Leben und meine Zukunft, wo sehe ich mich in zehn Jahren?

Mia schrieb:

Ich bin ein Stein. Ein kleiner Stein, der am Rand des Weges liegt, wo ihn nur noch Menschen beachten können, die selbst vom Weg abgekommen sind. Sie stoßen sich ihre Füße an mir. Sie treten mich, sie schießen mich weg, hinein in die nächste Pfütze und weiter, immer weiter bis hinein in die Reisgar. Dort sinke ich tiefer und tiefer. So ist es mit den Steinen – sie sind schwer, niemand hebt sie auf, es geht nur noch bergab. Dort liege ich dann in den tiefen, dunklen Strömen der Flusses, um mich herum nur noch Wasser. Über die Jahre wird es meine Kanten, meine Ecken und meine Seiten glatt spülen, bis alles ausgewaschen ist und ich ein runder weicher Kiesel bin. Die Strömung wird mich hier hin und dorthin tragen, doch es ist egal, denn ich bin nur ein Stein wie jeder andere, ein Stein unter Millionen und für niemandem von Beachtung.

Aufgabe verfehlt schrieb ihre Lehrerin in großen roten Lettern darunter. Und dahinter: eine 6.

© Anna Heise 2022-08-02