6. Mai

Anja Irlenbusch

by Anja Irlenbusch

Story

Rama ließ frustriert die Arme hängen, die in samtenen Puffärmeln steckten. Sie probten diese Szene schon zum fünften Mal und ihr Dozent war immer noch nicht zufrieden. Er hatte versucht, der Rolle des Rosencrantz seinen persönlichen Stempel aufzudrücken, aber das kam beim Dozenten und seinem Schauspielkollegen Ben, der den Guildenstern spielte, gar nicht gut an. Er verstand immer noch nicht, warum man ihm diese Rolle gegeben hatte. Rosencrantz und Guildenstern waren Nebenrollen in Shakespeares Hamlet und wurden sogar zu einer Figur zusammengezählt, weil sie nur zusammen auftraten und stellvertretend für die Korruption im Stück standen. Mr. Miller hatte ihm erklärt, dass es eine wichtige Entwicklungsaufgabe für ihn sei, jemanden zu spielen, der im Hintergrund bleibt und Teil einer Gruppe ist, ohne sich besonders hervorzutun.

Er hatte recht behalten, denn diese Rolle fiel ihm so schwer wie keine andere zuvor. Er war immer der Star gewesen oder hatte es in seinen Nebenrollen regelmäßig geschafft, den Hauptfiguren die Show zu stehlen. Sich nun als austauschbar und unbedeutend darzustellen, widersprach seiner Natur und er merkte, dass er immer wieder aus der Rolle fiel. Auch wenn die Anderen anfangs noch darüber lachen konnten, waren sie mittlerweile genervt, weil sie in dieser Szene feststeckten. Rama machte die Kritik des Dozenten schwer zu schaffen, es kratzte an seinem Ego und er schämte sich, dass er es nicht besser konnte.

Als Ben sagte, dass er eine Pause brauche, war er erleichtert, denn er wusste nicht, wie er aus diesem Teufelskreis ausbrechen sollte. Herr Miller rief ihn zu sich und sagte mit seinem schweren englischen Akzent: “Rama, ich möchte, dass du heute Nachmittag allein in die Innenstadt gehst und versuchst, nicht aufzufallen und mit niemandem zu reden. Stell dir vor, du bist ein Geheimagent auf einer Mission und musst undercover bleiben. Ich glaube, das ist eine gute Übung für dich.” Rama konnte sich nichts vorstellen, worauf er weniger Lust hatte, aber er setzte ein professionelles Lächeln auf und sagte: “Ja, danke. Ich versuche es.”

Auch als Ben ihn in der Pause fragte, wie es ihm gehe und ob er ihm irgendwie helfen könne, lehnte Rama mit einem lässigen Lächeln ab. Alle kannten ihn nur als einen selbstbewussten, charismatischen Mann und es war ihm wichtig, dass das so blieb. Er ahnte, dass das auch der Grund war, warum er noch nie eine richtige, dauerhafte Beziehung gehabt hatte und Elif seine einzige wirkliche Freundin war. Aber der Gedanke, Schwäche zu zeigen, schnürte ihm die Kehle zu. Er wollte sich nicht verwundbar machen.

Nach der Pause betrat Mr. Miller mit besorgtem Gesicht den Proberaum und erklärte, dass Gabriela, die die Rolle der Ophelia spielte, mit einem gebrochenen Beim im Krankenhaus lag. Da sie keine Zweitbesetzung eingeplant hatten, bat er sie, sich nach einem Ersatz umzusehen. Rama musste sofort an Elif denken, da sie das Stück in der Theater-AG der Schule zusammen geprobt hatten. Elif sollte damals die Ophelia spielen, hatte sie sich dann jedoch leider doch nicht auf die Bühne getraut, aber vielleicht wäre das ja jetzt anders. Er nahm sich vor die Freundin zu fragen.

© Anja Irlenbusch 2024-09-01

Genres
Novels & Stories