6. Warum nicht

Felix Wender

by Felix Wender

Story

„Weißt du etwas mit dem Begriff ‚Glaubenssätze‘ anzufangen?“, fragte Sam Rasmus damals, als sie sich kennenlernten. Rasmus, so glaubte er seitdem, mangelt es an allem, außer vielleicht an Geld. Noch nie wusste Rasmus viel über Sams Berufsleben, lediglich, dass Sam in einem Bürobaukomplex einen Raum bezieht, und Sam die Tätigkeit Gender- und Sexualberatung nennt. Etliche Menschen leiden an Dysphorie, es mangelt ihnen an Gesprächen, und für sie wäre Sam dann da. Was Gender bedeutet, weiß Rasmus nur aus Erzählungen, er glaubte immer im Gegensatz zu Sam kein Gender zu haben, da Sam aussieht wie alle, die das Wort Gender benutzen, er jedoch nicht.

Mittlerweile ist Rasmus arbeitslos und hatte für Wochen keinen Kontakt zu Sam, doch nun entschied er sich, einen Neuanfang zu wagen, weswegen er kurzerhand zu Sams Büro ging, denn Sam beantwortete seit dem Zwischenfall weder Anrufe noch die Türklingel. Die Bürotüre steht auf, doch niemand da. Auf den Fluren wiederum herrscht reger Betrieb; die Ich-AGs scheinen sich hier zu überschlagen.

Im Flur trifft er auf eine Vielzahl Menschen, die wie steif gefroren auf einem mit bunten Wachskreiden ausgemalten Packpapier stehen. Sie stecken die Köpfe zusammen, während sie sich alle die Arme um die Hüften legen. Wie ein introvertiertes Gebirge, so stellt Rasmus es sich vor, stehen die kleinen Hügel beisammen, zu wem auch immer zugehörig. „Die Trance ja nicht stören“, zischt ein Mann, der sich zu ihm gesellt, wonach Rasmus sich kurz räuspert. Er ist ganz nett anzusehen, denkt Rasmus, und wird steif. “Kommt Sam denn nicht wieder?“, flüstert er, woraufhin Rasmus bloß die Schultern hebt und entgegnet: ”Ich fürchte, Sam ist gar nicht hier.”

“Rasmus, nicht wahr”, hakt der Mann plötzlich ein, doch Rasmus erschrickt. “Es wäre nicht gut, wenn Sam hier auf uns beide stößt. Eigentlich bin ich nur hier um etwas abzuholen. Hast du etwas vor? Wir haben uns all die Jahre nie persönlich kennengelernt. Ich bin Fiete.“ Und als Fiete ihm aufgeregt die Hand zu schütteln begann, gerät Rasmus bloß ins Stottern.

„Diese Skulptur“, betont Fiete, während er Rasmus durch Sams Besprechungszimmer führt, als wäre es sein Atelier. „Ein Frühwerk von mir. Du denkst sicher, wie kann ich nur ein Geschenk rückgängig machen, nicht? Aber neulich schrieb mich ein alter Freund und Sammler an, ob ich nicht noch etwas hätte, und jetzt wird das halt verkauft; Sam wird sicher erleichtert sein. Packst du an?“

“Warum nicht”, sagt Rasmus. „Würde es dir was ausmachen, Handschuhe zu tragen?“, entgegnet Fiete wiederum. „Was sind die Werke denn wert?“ „Also“, röchelt Fiete belustigt, „darüber spreche ich nur mit potenziellen Käufern.“

„Habe verstanden.“ „Die Oberfläche ist empfindlicher als sie wirkt.“ „Sie wirkt tatsächlich sehr robust.“ „Finger weg! Nicht mit den Drecksfingern.“ „Natürlich, entschuldige.“

„25.000 Euro!“ „Bitte?“ „Will ich von dem Sammler für das Teil haben.“ „Uff. Okay.”

“Packst du an?”

© Felix Wender 2022-08-31