by Maike Hagel
Der Flur in seiner Wohnung lag verlassen da, als Michael Raumann abends die Haustür aufschloss. Jasmin war vermutlich gerade mit dem Hund draußen, jedenfalls fehlte von beiden jede Spur. Erschöpft seufzend goß sich Michael ein Glas Wasser ein und ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen. Für ein paar Minuten saß er einfach nur da und genoss die Stille.
Die Sitzung mit der neuen Therapiegruppe war recht gut verlaufen, wenn auch etwas verstockt. Schon allein die Vorstellungsrunde war verkrampft. Es war eben zunächst immer ein bisschen verkrampft. Er hatte wie immer den Anfang gemacht, die Vorlage gegeben sozusagen. Und sein Anfang sollte darauf hindeuten, dass er nicht wollte, dass sich die Kids mit ihrem Aufenthaltsgrund in ihrem kleinen Stuhlkreis vorstellten. Er wollte nicht, dass sie das als Teil ihrer Persönlichkeit sahen.
Sie waren nicht ihre Krankheit.
Im Gegenteil, ihre Probleme machten sie nicht aus, sie formten sie nur, indem die Sechs lernten, damit umzugehen und darüber zu reden.
Therapiegruppen waren immer eine heikle Angelegenheit, weil dort die unterschiedlichsten Charaktere aufeinander trafen. Zurückhaltend, aufbrausend, trotzig oder ängstlich, und jeder nur für sich. Es war schwierig, Verbindungen herzustellen.
Michael nahm noch einen Schluck Wasser und schob dann die Akten seiner Schützlinge zur Seite, um an seine Ausarbeitungen heranzukommen. Er plante einen Ausflug, das würde es einfacher machen. Dann kämen sie endlich mal weg von diesen krankenhausartigen, zwanghaften Sitzungen. Den Meisten sah man nämlich deutlich an, dass sie überall lieber wären als in diesen Therapiesitzungen. Und konnte man es ihnen verübeln?
Viele waren nicht aus eigenem Antrieb hier, wie zum Beispiel Kate oder Arnie. Melissa verleugnete ihre Probleme, und Philip hatte sich selbst schon aufgegeben. Nils mimte den Fröhlichen, und Hakim begegnete allem mit Angst.
Sie wollten nicht reden.
Und Michaels Aufgabe war es ihnen zum Reden zu verhelfen. Mehr noch, er wollte ihnen helfen, aber dazu mussten sie sich auch selber helfen wollen. Es war nicht leicht. Derartige Krankheiten traten nunmal in den unterschiedlichsten Formen auf und egal wie sie aussahen, jede davon war ernst zu nehmen.
Entschlossen wandte er sich wieder seinen Unterlagen zu.
© Maike Hagel 2021-08-14