by Jessica Last
„Es ist mir eine Ehre, euch heute bei eurer Abschlusszeremonie zu begleiten und euch damit in einen neuen Abschnitt eures Lebens zu führen!“, rief sie, ihre Stimme klar und deutlich. „Doch heute wird alles etwas anders ablaufen, als ihr es euch vermutlich vorgestellt habt.“ Ein triumphierendes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Während sie dies verkündete, schritt sie langsam, aber bestimmt vor uns auf und ab. „Heute ist der Tag, an dem wir euer wahres Ich zu Gesicht bekommen werden. Kein Verstecken mehr hinter einer Fassade. Nur die pure Wahrheit!“ Verwirrt tauschte ich Blicke mit Polly. Was meint sie damit? Steht uns etwa doch eine Art Mutprobe bevor? „Vermutlich habt ihr bereits diesen prachtvollen Stuhl hier neben mir bemerkt“, fuhr sie fort und deutete auf den Stuhl. „Das ist nicht einfach irgendein Stuhl. Nein, er ist viel mehr als das. Das ist der Stuhl der Wahrheit. Wer auch immer auf ihm sitzt, wird von ihm durchschaut. Er weiß alles über euch – jede einzelne Tat, die ihr in eurem Leben begangen habt, jeden Gedanken, den ihr je hattet.“
Aufgeregtes Tuscheln ging durch die Reihen. Ich starrte Rea weiterhin an, gefangen von ihrem Anblick, während ich gleichzeitig die Stirn runzelte, unsicher, ob sie einen Scherz machte oder es ernst meinte. Vielleicht ist das so etwas wie ein Lügendetektor? Überlegte ich und betrachtete den Stuhl genauer, konnte jedoch nichts erkennen, was darauf hinwies. Sie setzte fort: „Und sobald er alles über euch herausgefunden hat, bewertet er die Reinheit eures Herzens. Je heller der Kronleuchter daraufhin leuchtet, desto reiner ist euer Herz.“ Sie machte eine dramatische Pause und wartete auf unsere Reaktion, bevor sie weitersprach: „Ihr fragt euch sicherlich, wofür das gut sein soll. Wer will schon wissen, wie rein jemandes Herz ist? Nun ja, das hier wird den Rest eures Lebens bestimmen. Denn je reiner euer Herz, desto mehr Ansehen werdet ihr in unserer Gesellschaft erlangen. Ihr werdet angesehenere Berufe wählen können und in den schönsten Vierteln unseres Landes leben. Und nicht zu vergessen: Ihr werdet Kinder bekommen dürfen!“ Dabei blieb ihr Gesicht ausdruckslos, als hätte sie uns gerade eine einfache Tatsache erklärt. In mir drehte sich alles. Was zur Hölle passiert hier?!
Ich hörte, dass jemand aus den vorderen Reihen ihr etwas zurief, doch ich konnte nicht verstehen, was es war. Rea lachte nur. „Eine berechtigte Frage, junger Herr. Wie soll das überhaupt funktionieren?“, erwiderte sie und blieb kurz stehen. Sie schaute in die Runde, wartete einen Moment, dann öffnete sie ihre Arme und verschwand in einem strahlenden Licht. Ihr Körper begann so hell zu leuchten, dass ich wegsehen musste. Erst als das Licht nach wenigen Sekunden verschwand, konnte ich wieder zu ihr hinsehen. Doch es war nicht mehr Rea, die uns entgegenblickte, sondern ein riesiger Greifvogel.
© Jessica Last 2024-08-31