~ 9 ~ Unsterblichkeit ~

Perspektive 1

Farben umspülten wie flüssige Tinte die Ausläufer meiner durchscheinenden Gestalt, färbten die mikroskopisch kleinen Tropfen kobaltblau, auberginenrot und samtig rosa. Sie erschufen ein Trugbild voller Harmonie und Stille, doch in Wahrheit sah es in meinem Inneren ganz anders aus.

Träge trieb ich umher, umhüllte voller Zorn das schwebende Schloss und ließ die schweren Eisenketten erzittern. Niemanden war es gestattet, in mein Reich vorzudringen. Und doch hatte es eine junge Hexe vor vier Mondzyklen gewagt.

Bekleidet mit einem spärlichen Hauch von nichts war sie auf den höchsten Gipfel der Andoin-Gebirgskette gestiegen und hatte es gewagt, die Gottheiten von Himmel und Erde mit ihrer engelsgleichen Stimme zu bezirzen, bis ihr ihr Wohlwollen zuteilwurde.

Kreischend durchschlug ein Vogelschwarm meine linke Flanke, Blitze entluden sich und viele der Wesen stürzten trudeln in Richtung Erdoberfläche hinab. Ich hatte es satt. Ich hatte genug von diesen Menschen, den Gottheiten, den ungehobelten Lebewesen und den mir auferlegten Beschränkungen.

Wütend bauschte ich mich auf und erhob mich über die höchsten Türme dieses weißen Anwesens. Ein Donnergrollen drang aus meinem Inneren und zerriss die Stille. Jeder würde meinen Zorn zu spüren bekommen, auch wenn es das Letzte war, was ich tat.

Perspektive 2

Glockenschläge erfüllten die Luft, ließen sie vibrieren – dunkel und unheilvoll.

Ich stand am Rand des Felsvorsprunges, den Blick auf das schwebende Schloss gerichtet. Die paradiesische Zufluchtsstätte dieser göttlich anmutenden Geschöpfe lud mit ihren Spitzdächern, zahlreichen Türmen und ausschweifenden Begrünung tatsächlich nur zu einem ein – dem Verweilen.

Doch dieser Frieden täuschte, denn hinter marmornen Wänden der strahlend weißen Wände schlummerte nichts als der Tod. Mordlust. Verderbnis. Und endlose Verzweiflung.

Es handelte sich um einen Versammlungsort für die ältesten und grausamsten Geschöpfe dieser Welt, seit Jahrhunderten gepeinigt durch die niemals endende Schleife der Zeit. Ähnlich einem Rad, das sich unaufhörlich zu drehen vermochte, selbst wenn all seine Mitfahrenden aussteigen wollten, gefangen in ihrer eigenen hochgepriesenen Überlegenheit.

Unsterblich zu sein wurde auf die Dauer anstrengend und die hier versammelten Personen hatten schon viel zu lange den Pik der Langeweile überschritten.

Mit stehenden Armhärchen schlang Elandrin ihr luftiges Gewand enger um ihren wunderschönen Körper. Heute würde sie in diesem von Wolken umschlossenen Anwesen ihrem unausweichlichen Schicksal gegenübertreten.