A Melody to remember (I)

Als würde sie aus einem Albtraum erwachen, schrak Selina hoch und sah sich nervös um. Sie hatte erwartet, sich noch immer in dem dunklen Zimmer zu befinden, in dem ihr das kleine Mädchen begegnet war. Stattdessen fand sie sich in einem der Hotelbetten wieder, die Vorhänge weit geöffnet, damit die Nachmittagssonne hineinscheinen konnte. Wie lang war sie ohne Bewusstsein gewesen? Wie war sie überhaupt hierhergekommen? Und viel wichtiger war das Ganze tatsächlich geschehen? Oder war die Begegnung mit ihrem jüngeren Ich nur ein weiterer böser Traum gewesen? So sehr sie grübelte, konnte Selina keine angemessene Antwort finden. Doch eine kleine Stimme in ihrem Hinterkopf ließ das Geschehene nicht los. Irgendetwas in ihr wusste, dass etwa wahres dahinter steckte. Auch wenn es noch so unmöglich schien, aber die Begegnung mit ihrem früheren Selbst war bedeutend. Das Mädchen wollte ihr irgendetwas mitteilen, nur wusste sie noch nicht, was das sein sollte.

Dann fiel Selina die Melodie wieder ein. Als hätte sie es schon oft gehört, summte sie es automatisch vor sich hin und versuchte wieder nach dem Gedanken zu fassen, der ihr letzte Nacht im Zimmer 13 gekommen war. Es war vertraut und barg doch eine tiefe Trauer in sich, obwohl die Tonleiter an sich sanft und beruhigend klangen – fast wie ein Schlaflied.

Erschrocken atmete Selina scharf ein, da eine Erinnerung vor ihrem inneren Auge Gestalt annahm, die sie lieber wieder begraben würde. Es beinhaltet eine schlanke Silhouette in einem langen, blauen Kleid. Nussbraune Haare, die ihr in Wellen über den Rücken fielen und kristallblaue Augen, welche sie mit so einer Liebe ansahen, wie es nur eine Person auf der Welt vermochte.

“Mama”, flüsterte Selina, während ihr unbemerkt eine Träne über die Wange lief.

Sie hatte jahrzehntelang nicht mehr an ihre Mutter gedacht und hatte gehofft es, nach Beendigung der Therapie auch nie wieder tun zu müssen. Schon der Versuch daran ließ die unangenehmsten Emotionen aufsteigen, die von Trauer und Sehnsucht bis hin zu Ärger und Hass reichten. Doch in diesem Moment konnte sie es nicht verhindern. Erinnerungen, die Selina lange Zeit verdrängt hatte, schossen an die Oberfläche. Bilder aus schönen sowie schwierigen Zeiten, eine heile Familie, die langsam zerbrach, Liebende, welche zu Feinden wurden und eine Flucht, die im Roten Meer endete.

Was auch immer hier vor sich ging, wieso sie zurück in eine Zeit gezogen wird, die sie am liebsten aus ihrer Geschichte ausradieren würde, war zweitrangig. Denn zusammen mit den Bildern ihrer Vergangenheit ergriff Selina auf einmal eine unbeschreibliche Sehnsucht. Ein Verlangen so tief in ihrem Inneren verankert, dass ihre Füße ohne Zutun wussten, wo sie sie nach dem Aufstehen hintragen mussten. Es war ein Ort, den ihre Mutter und sie geliebt haben; wo beide Stunden lang gespielt und gelacht haben. Ein Versteck nur für sie, der die beiden Frauen auf unergründliche Weise tief miteinander verband, selbst über den Tod hinaus.

Das Meer!