Abgründig

Gerda Modera

by Gerda Modera

Story
Urfahr Umgebung 2024

Freitag der dreizehnte. September. Dauerregen, Schnee in den Bergen und es soll noch viel schlimmer kommen. Ein Stück Lebkuchen quält sich gemeinsam mit einem Schluck heißen Kakaos meine schmerzende Kehle hinunter. Vielleicht würde mir ein “Shakerato”, ein geeister und geshakter Espresso, besser tun? Vor vier Tagen schwamm ich noch im 24 Grad warmen Wasser meines Heimatsees. Von da an ging es mit den Temperaturen steil bergab. Direkt in den Spätherbst hinein. Mein Immunsystem hat sich nicht einmal gewehrt, sich kampflos unterworfen, und mein Körper hat sich fürs Kranksein entschieden. Mit all seinen Vor- und Nachteilen. Und viel Zeit die Zeitungsstapel abzuarbeiten und den Pflanzen im Garten beim Ersaufen zuzuschauen. Meine zwei orangefarbenen Porzellanfische drohen inzwischen über das Springbrunnenwasserbecken zu schwappen und abzustürzen. Und ich sitze vorm Computer, anstatt mir den Regenmantel überzuwerfen und die Fische zu retten. Ich mache mir lieber Sorgen um das Klima, die Abgründe der kranken, verirrten Seelen, über die Schwafler, Extremisten und die Verrohung der Sprache in der Politik und überhaupt. Wie oft kamen mir alleine heute beim Lesen der Zeitungen die Wörter Kampf, Drohung, Panikmache, Absturz und Abgrund unter. Die Gründe, nicht kehrt zu machen und doch den A-B-G-R-U-N-D zu wählen sind vielfältig.

A – wie Agnes. Sie lebte im 18. Jahrhundert, war kinderlos, hochreligiös und todessehnsüchtig. Im Film „des Teufels Bad“, gesteht sie, ein kleines Kind ermordet zu haben. Ein historisches Phänomen. Hunderte verzweifelte Frauen töteten damals Kinder und zogen damit eine Hinrichtung einem Suizid vor, denn Selbstmord führte unweigerlich zur ewigen Verdammnis. Eine Szene aus dem Film blieb in meinem Gedächtnis haften: Eine Frau mit einem Baby im Arm steht am Rande eines Wasserfalles. B – wie Bowie David, Lady Gaga, Jan Ulrich. Sie und noch einige mehr gehören zu den Stars und Sportlern, die ihren schweren Absturz in die Drogensucht überlebt haben. Für Amy Winehouse, Kurt Cobain und viele mehr waren die Abgründe zu tief um zu überleben. G – wie Gert. Fallschirmspringer. Immer wieder springt er aus 4000 m Höhe. Aus dem Flugzeug. – Der freie Fall dauert ca. 60 Sekunden, und er ist süchtig nach diesem Gefühl. R – wie Reffet. Vincent stürzte sich mit dem “Wingsuit”, seinem Fledermausanzug wie ein Eichhörnchen von Plattformen und Türmen. Bis 2020. Das war sein letztes Mal. – Die Todesrate liegt beim “Basejumpen” bei 1 zu 500. U – wie Una. Sie sah keinen Ausweg mehr, warf sich ein paar Tabletten ein, legte den Abschiedsbrief auf den Beifahrersitz und ging auf die Brücke zu. Fünf Monate galt sie als vermisst. Erst im Frühling gab der Fluss ihre Überreste frei. N – wie Norbert. Seine Leidenschaft für die Lüfte führt ihn seit Jahren immer wieder hoch hinauf. Vorm Fall in den Abgrund bewahrt ihn sein Gleitschirm. Dabei vergisst er die Welt rund um sich. D – wie Duque Orlando, Klippenspringer. Er stand am Abgrund des Victoriawasserfalls, stürzte sich aus 30 Metern Höhe in die Tiefe, tauchte mit 90 km/h ins Wasser ein und zwischen Stromschnellen und Krokodilen wieder auf. Er wollte es wissen. Und hat überlebt.

 

 

© Gerda Modera 2024-09-13

Genres
Novels & Stories
Moods
Abenteuerlich, Dunkel, Emotional, Informativ
Hashtags