Abschied vom Vater

Rainer Rosner

by Rainer Rosner

Story

Der Vater ist jetzt zehn Jahre tot. Aber wirklich vorbei sollte es erst jetzt sein. Als seine Tochter auf die Welt kam, war sie ein Unfall. Ein Unglück, das die lange geplante Türkei-Reise und die Studienpläne des Vaters vereitelte. Keine Rechtswissenschaft, stattdessen Lehrer. Für den Vater eine Katastrophe. Wie stand er mit dem Sozialprestige eines Pädagogen nun vor aller Welt und den Augen seines besten, weil einzigen Freundes da? Er hätte doch auch in Rechtsfragen gerne alles besser wissen wollen? Grund genug für die Tochter, um sich schuldig zu fühlen. Umso mehr, als der Vater schon in ihren ersten Jahren gemerkt hatte, dass er sie zu keinem perfekten Menschen formen konnte. Das hatte er sich, wenn schon denn schon, nämlich vorgenommen.

Dennoch war ihm die Tochter viele Jahre sehr nützlich. Sie diente ihm als Projektionsfläche für seinen Minderwert. Für seine uneingestandenen Defizite, die ihn sein Leben lang begleitet hatten und mit denen er ihrer kindlichen Seele zusetzte. Meistens mit Gewalt. Denn ja, die ständige Kritik an ihr und seine Wut auf sie waren Gewalt, die er ansonsten wohl gegen sich selbst gerichtet hätte. Wäre er nicht nur in der Schule, sondern auch in der Familie ein mutiger Pädagoge gewesen, hätte er es erkannt. Dass er selbst nicht perfekt ist, eigentlich unfähig seiner Tochter ein Vater zu sein. Und dass er vieles über sich zu lernen gehabt hätte.

Monate vor seinem Tod im Krankenbett liegend hatte er ihr Angebot zu einem Vater-Tochter-Gespräch empört ausgeschlagen. Ob sie denn in Sterbeangelegenheiten eine Expertin wäre, meinte er nur? Nein, das nicht, aber in Vater-Tochter-Angelegenheiten ein wenig. Sie wollte ihnen beiden die kleine Chance geben, ein bisschen etwas zu reparieren. Dinge anzusprechen, die all die Jahre unausgesprochen geblieben waren. Zurückschauen und ein wenig an Versöhnung arbeiten. Aber daran hatte er kein Interesse. Im Gegenteil. Der Vater ließ sie an seinem Sterbetag noch spüren lassen, wie wenig Wert er auf sie legte. Hat alle Anwesenden im Krankenhauszimmer bei ihrem Nachhausegehen ein letztes Mal umarmt. Warum nicht mich? fragte sich sich all die Jahre. Sie böse und verletzt anschauen war das einzige, was er noch in den letzten Stunden seines Lebens konnte. Eine letzte Verurteilung. Irgendwie bewundernswert diese Konsequenz, denkt sie nun, mit der er in einen Tod gegangen ist, den er bis zuletzt nicht akzeptieren konnte.

Bis heute ist ihr, als finde seine Seele noch immer keine Ruhe. Sie schleicht sich in ihre Träume, drückt auf ihr Herz. Deshalb sitzt sie nun auf ihrem Sofa und spricht laut und mit fester Stimme: Geh weg, Vater! Geh dorthin, wo man als Toter hingehen sollte. Ich stehe nicht mehr zur Verfügung. Ich verabschiede dich von mir, wünsche dir trotz allem alles Gute. Auf dass dich deine Besserwisserei an einen Ort führt, der dich wirklich einmal alles besser wissen lässt.

© Rainer Rosner 2021-05-04