All you can live

Christian Bär

by Christian Bär

Story

Als die Diagnose ALS vor viereinhalb Jahren gestellt wurde, war das Ausmaß der Auswirkungen auf unser Leben nicht absehbar. Am Anfang waren die Gedanken sehr grob. Diagnose, Pflegefall, Tod. Zeitansatz circa drei Jahre, mit mehr sollte zur Sicherheit nicht geplant werden. Vermutet wurde, dass die Zeit bis zur Fährfahrt von Leid und Trauer geprägt sein wird, die Sonne sich verdunkelt und wir nun einen Sterbeprozess einleiten, der unseren Alltag bestimmt. Anscheinend wollte Simon Petrus unserer Theorie nicht folgen, und die Sonne erstrahlte am nächsten Tag in bester Hochsommermanier. In den nächsten Tagen und Wochen nach der Diagnoseverkündung war es ähnlich. Zwar schmerzte die Theorie des schnellen Ablebens, doch wenn man es genau und sachlich betrachtet, gab es aus meiner Sicht weder großes Leid noch Grund für Trauer. Ansichtssache. Ich arrangiere mich jeden Morgen neu mit der Lage. Es überwiegt die Freude am Leben. Dies schmälert nicht die Tragik, übertüncht auch nicht meine Traurigkeit, aber es ändert die Verhältnismäßigkeit zugunsten der guten Laune. Ich lebe gerne, bin mit mir zufrieden und verstehe das Leben jeden Tag als Geschenk – über Geschenke freut man sich. Negative Sichtweisen sind mir nicht eigen. Mein Glas ist stets halbvoll.

Und so wandelte sich das Bild von unserer düsteren Zukunft, die das Sterben als Thema hat, langsam in eine Vision, weg vom in Stein gemeißelten Bild hin zur dynamischen Vorstellung vom Leben. Keine Henkersmahlzeit, sondern all you can live. Wir haben uns entschlossen glücklich zu sein! Das macht die Lage nicht besser, aber es macht uns glücklicher.

Wir haben eine gewisse Professionalität bekommen mit der Krankheit zu leben. Die verschiedenen Herausforderungen werden Stück für Stück angegangen. Nicht, dass wir einen Plan zum Abarbeiten hätten, an dessen Ende die optimale Lösung für alle Probleme inklusive Weltfrieden steht. Vielmehr wuchsen und wachsen wir mit den Herausforderungen und versuchen nach bestem Wissen vorausschauend zu planen.

Es war und ist eine Metamorphose. Wir passen uns kontinuierlich meinem Zustand an. Es gibt keinen Stillstand, Agilität wird abverlangt. Es ist beachtlich wie die Strömung ALS uns hinausträgt und man erschrocken feststellt, dass man vom Ufer weit entfernt ist und das Überleben aus eigener Kraft nicht gerettet werden kann. Egal. Im Wasser lernt man schwimmen, und noch schwimme ich. Auch zünde ich regelmäßig eine Signalfackel in Form eines Blogs, pfeife auf der Signalpfeife, aber irgendwie will man mich nicht hören. Eigentlich sind wir nicht zu übersehen. Allein in Deutschland schwimmen noch weitere 8.000 Seelen ums Überleben, jährlich treiben davon über 2.000 Tote an den Strand. Dem Rettungsteam fehlen die Mittel. Anstatt uns mit einem Seenotkreuzer retten zu können, wird noch am Einbaum gehobelt. Thus, dear band, might you play “Nearer my God to Thee”, we are drowning… May I have a last gin and devil-may-care. Safe our souls.

© Christian Bär 2021-02-08

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