Alles auf der Kippe

Jasmin Stahl

by Jasmin Stahl

Story
Bayern 2003

„Die Alte“ ist im Krankenhaus mit Nierenkrebs. Ich denke mir nur: wie praktisch. Gelegenheiten zu endlosen Partys ergeben sich fĂŒr diese kurze Zeit. Ich kann an nichts anderes denken. WĂ€hrend alle anderen Freunde haben dĂŒrfen, war ich bisher vor Augen der “Alten” auf meine zwei tĂŒrkischen Freundinnen beschrĂ€nkt. Aber jetzt wird gefeiert: Die Party startet, die Kronkorken fliegen und ich kann wie eine normale 15-JĂ€hrige leben. Wir werfen Ketchup durch das Wohnzimmer, trinken bis zum Umfallen und rauchen auf dem Balkon. Ein Rotzfaden seilt sich von meiner Nase ab und landet auf dem verĂ€rgerten Nachbar unter mir, der gerade seinen Kopf herausstreckt. Ich fĂŒhle mich unbeschwert! Doch die zwei Wochen Freiheit enden schneller als gedacht. „Die Alte“ ist zurĂŒck und ich wieder in meiner Zelle.

Schule ist Mobbing, Zuhause ist Folter – die Party ist vorbei. Doch jetzt Ă€ndert sich alles: Als ich die Wohnung betrete, sehe ich Glasscherben ĂŒberall und dann eine kaputte TĂŒrscheibe. „Was zum Teufel?“, denke ich verwirrt. Ein Notarzt und zwei Helfer in ihren Uniformen blicken mich an. Sie verarzten „die Alte“, die wiedermal durchgedreht ist. In diesem Moment trifft mich ein Schlag von der Seite. Ich sacke zu Boden. Mein SchlĂ€gerbruder haut wieder zu. „Die Alte“ erlitt einen Nervenzusammenbruch, weil sie mein Zimmer durchkĂ€mmte. Von meinen zwei Wochen Freiheit fand sie sĂ€mtliche Fotos. Es war keine kluge Idee, Beweismaterial in dieser GefĂ€ngniszelle zu verstecken. Sie findet alles. Die Ärzte geben ihr starke Beruhigungsmittel. Aber was ist mit mir? Ich kauere auf dem Boden inmitten von Scherben. Zehn Tage lang lebe ich in der Verdammnis. Ich finde meine Lieblingshose zerschnitten auf dem Balkon wieder. Komme ich von der Schule nach Hause, behauptet sie, ich sei mit irgendeinem Kerl zusammen unterwegs gewesen, sie habe alles beobachtet. Paranoia am Fensterbrett steht an der Tagesordnung. Hat sie Angst davor, in der Rolle als Mutter zu versagen? Oder hat sie nur Angst, vor anderen Menschen schlecht dargestellt zu werden? Sie ist besessen davon, mich zu vernichten. Ein anderes Mal finde ich all meine Poster auf dem Boden zerknĂŒllt wieder. Die kindlichen, babyblauen Raufasertapeten dominieren meine Zelle und Kurt Cobain liegt zerrissen auf dem Boden. Jeden Tag ist dieser kleine Raum erneut umgestellt und irgendetwas fehlt. „Wie behĂŒtet andere in meinem Alter wohl leben?“, frage ich mich immer wieder. Ein Zuhause ist das nicht. „Wie viele Arten von Psycho-Folter gibt es?“ Fragen ĂŒber Fragen plagen mich.

Diese zehn Tage neigen sich langsam dem Ende zu. Der SchlĂ€gerbruder ist wieder zu Besuch. Die Luft ist dĂŒnn. Völlig erschöpft von den letzten Tagen Folter liege ich in meinem Bett, denn jede Minute kann es wieder knallen. Manchmal kriege ich das Staubsaugerrohr ab, manchmal nur die HandflĂ€che. Mein Leben auf der tickenden Zeitbombe ist wieder einmal am Explodieren. Als er in mein Zimmer kommt, spĂŒre ich die plötzlich wachsende Anspannung. MĂŒde und mit geschwollenen Augen blicke ich zur TĂŒr. Er steht Knall auf Fall vor meinem Bett. Alles passiert so schnell. Ich krache mit dem Lattenrost durch. Doch etwas Neues steigt in mir auf. Es ist die Faust des Zorns! Mit meiner geballten Rechten ziehe ich nach oben durch. Ruhe. Ich sehe nur weiße Blitze. Sein Finger ist ausgekugelt. Ich kann kurz verschnaufen.

© Jasmin Stahl 2024-07-01

Genres
Biographies
Moods
Herausfordernd, Dunkel, Emotional, Angespannt, Dark
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