„Was hat er Ihnen angetan?“, fragt der Polizist. Ich starre ihn an, bin verwirrt, mein Kopf schmerzt. Wer hat mir etwas angetan? Ich schweige. Vorsichtig legt er seine Hände auf meine Schultern. „Sie brauchen keine Angst zu haben. Er ist weg.“
„Wo ist er?“, will ich wissen. „Er kann Ihnen nichts mehr tun. Wir haben ihn mitgenommen.“ Mitgenommen? Ich bekomme Panik. „Beruhigen Sie sich, bald wird es Ihnen besser gehen.“ Wieder seine Hand auf meiner Schulter. Ich zucke weg, er soll mich nicht anfassen. Nur Rick darf das. Meine Wangen sind nass, ich weine. „Ich will zu ihm“, wimmere ich. „Keine Sorge. Wir helfen Ihnen. Kommen Sie.“ Er reicht mir seine Hand, zögerlich lege ich meine in seine. Sie fühlt sich rau und klobig an, ganz anders als die weichen, zarten Hände von IHM.
StĂĽtzend fĂĽhrt er mich zum Streifenwagen, hilft mir hinein. Die Welt zieht an mir vorbei, ich sitze bewegungslos da, mein Blick starr auf den Sitz vor mir gerichtet. Wir halten an. Jemand zieht mich aus dem Auto. Ein langer Gang. Eine TĂĽr. Ich werde auf einen Stuhl gesetzt, bin noch immer apathisch.
„Jenna. Oh mein Gott, Kleine!“, ruft ein Mann. Allein seine Stimme reicht aus, dass sich mein Magen zusammenzieht, mir wird übel. Eine feste Umarmung. Ich fühle mich unwohl. Mein Blick wandert zu ihm hoch. Markante Wangenknochen, ungepflegter Vollbart, dunkle Ringe unter den Augen. „Papa?“ „Alles wird gut, Jenna. Er wird für das, was er dir angetan hat, bezahlen.“
*
Ich bin gerade auf dem Weg zu Kathi und Flo, als ich diesen gutaussehenden Jungen am Straßenrand entdecke. Er sieht direkt zu mir herüber, beobachtet mich. Ich gehe weiter. Aus dem Augenwinkel betrachte ich ihn genauer. Seine grünen Augen strahlen in der Abendsonne, sein braunes, längeres Haar ist leicht zerzaust. Er lächelt mich an – perfekte, weiße Zähne.
„Hallo.“ Seine tiefe Stimme. Gänsehaut überall. Ich benehme mich total bescheuert, bleibe stehen. Mein Mund steht offen, doch ich bringe keinen Laut heraus. „Ich bin Rick und wie heißt du?“ „J… Jenna“, stottere ich. „Was treibt dich an diesen verlassenen Ort?“
Wir treffen uns immer hier, am Gelände einer alten Fabrik. Meistens kiffen wir nur. Ich finde das ziemlich bescheuert, aber immerhin ist alles besser als zu Hause bei meinem Vater zu sein und andere Freunde habe ich nicht – wenn ich Kathi und Flo überhaupt als solche bezeichnen kann. Ich weiß so gut wie nichts über die beiden, unsere Freundschaft beschränkt sich darauf, miteinander abzuhängen und ein paar Joints zu rauchen, wir reden nicht viel. In dieser Stadt möchte niemand etwas mit der Tochter eines asozialen Säufers zu tun haben. Sogar meine Mutter ist vor ihm abgehauen. Ich hasse sie dafür, dass sie mich hiergelassen hat.
„Ich treffe mich mit jemandem“, antworte ich. „Schade. Ich hätte dich gerne auf einen Drink eingeladen.“ Was will dieser Typ von mir? Denkt der echt, ich gehe einfach so mit einem Fremden mit? Jedoch, wenn ich darüber nachdenke, habe ich eh keinen Bock auf Kathi und Flo. „Nur ein Drink?“
© Melanie Reiterer 2021-08-14