Es war im Sommer 1993. Ich war Student in Innsbruck. Als solcher hatte ich ein Stipendium für drei Wochen an der Grande Ecole in Le Havre erhalten. Meine Welt war gerade dabei, so wirklich groß zu werden. Zu meinem 18. Geburtstag war ich zum ersten Mal ans Meer gekommen – zur Maturareise. Nun wartete mit Frankreich der bisher längste Auslandsaufenthalt, bevor es im Folge-Jahr mit Erasmus nach Irland gehen würde.
In Le Havre angekommen staunte ich über die Stadt. Sie erschien mir wie eine geschichtslose Betonwüste. Als ich in meinen Stadtführer hineinlas, begann ich zu verstehen: von wegen geschichtslos! Le Havre bereitete sich gerade auf die Feiern zu „50 Jahre D-Day“ vor. Am 6. Juni 1944 begann die Landung der Alliierten in der Normandie, um den Kontinent vom Nazi-Terror zu befreien. Was mir grob bekannt war, begann ich nun zu begreifen.
1993 gab es noch kein allgegenwärtiges Internet. Ich organisierte mir über die Bibliothek ein Buch und erfuhr, dass die Landung nur wenige Kilometer von Le Havre entfernt stattfand. Bis Ende Juli 1944 standen 1,5 Millionen Alliierte einer halben Million deutschen (und österreichischen) Soldaten gegenüber. Hier, wo ich mich mit Studierenden aus ganz Europa zu einem Sommerkurs traf, kam es also zur Begegnung unserer Großväter – um einander zu töten.
Allabendlich wühlte ich mich tiefer in die Geschichte hinein. Am vorletzten Tag berichtete ich meiner französischen Kollegin Stéphanie von meiner Lektüre. „Ja, mein Großvater hat mir oft erzählt, dass man vom Bahnhof bis zum Meer blicken konnte. Die Stadt war komplett zerstört. Sie lag wochenlang im Bombenhagel der Alliierten, weil es mit der Befreiung sehr kompliziert war.“
Ich wollte nachfassen, doch da stieß Uwe aus Köln zu uns: „Das ist sehr kompliziert. Wie geht das nochmals?“ wollte er wissen. Wir waren in Vorbereitung für den Abschlussabend, bei dem aus allen Herkunftsländern etwas „Typisches“ präsentiert werden sollte. Die Spanier würden mit Tapas und die Franzosen mit Rotwein aufwarten. Wir Österreicher wollten allen das Jodeln beibringen. Dafür übersetzten wir „Und jetzt gang i ans Peters Brünnele“ auf Französisch. Um nicht allein vorzusingen zu müssen, baten wir die Deutschen um Unterstützung. Sie waren nun fleißig am Üben.
Es wurde ein rauschendes Fest. Leise summend begegnete mir tags darauf Stéphanie vor dem Hörsaal: „Das war großartig!” strahlte sie. “Allerdings hab‘ ich heute ziemliches Kopfweh“, griff sie sich auf die Stirn. Wir grinsten beide. Ich gab ihr mein D-Day-Buch mit der Bitte, es für mich in der Bibliothek abzugeben. „Besser Schädelweh vom Party-Machen als Kopf-Ab in einem Gemetzel“, sagte ich und umarmte sie.
Diese Tage waren mein europäisches Erweckungserlebnis. Dort wo sich unsere Großväter die Schädel eingeschlagen hatten, dort hatten wir gemeinsam Kopfweh – vom Feiern. „Was für eine glückliche Generation“, denke ich mir noch heute oft und höre uns gemeinsam Singen und Jodeln.
#europelove #myeurope
© Matthias Strolz 2019-04-22