Das ist neu. Dass ich schon vor der Arbeit die Krise bekomme, ist neu.
Ich sitze auf der obersten Treppenstufe, direkt vor meiner Wohnungstür, neben mir die Tasche, darauf schon der Fahrradschlüssel, und binde mir die Schuhe zu. Weiße Sneaker, die mittlerweile etwas schmuddelig sind, aber immer noch suggerieren sollen, dass ich alles im Griff habe. Ich greife nach dem Fahrradschlüssel. Ich greife daneben, denn plötzlich sehe ich alles verschwommen wie in einer Regenpfütze. Ich schließe kurz die Augen. Ich öffne sie, und Regen fällt auf meine weißen Schuhe. Ich weine. Nicht lautlos und verhalten wie auf der Toilette im Büro, sondern herzhaft und ohne Hemmungen, wie jeden Tag auf meinem Weg nach Hause, wenn ich vor meiner üblichen Bank in einer einsamen Ecke des Parks mein Fahrrad abstelle und mich hinkauere, die Knie nah an die Brust, den Kopf in den Händen. Ich lasse mich vom Wind und vom Rauschen der Bäume umspülen und weine so lange, bis ich weiterfahren kann. Das Weinen schüttelt meinen müden Körper, verkrampft und entkrampft ihn. Erst wenn ich leergeweint bin, ist es sicher, weiterzufahren. Nach Hause zu fahren, dann Abendessen, Fernsehen, meinem Freund sagen, dass alles ok ist, schlafen, morgens aufstehen, mich ins Büro schleppen und die Krise bekommen und lautlos auf der Toilette weinen, nach Hause fahren, im Park halt machen und weinen und alles immer und immer und immer zu wiederholen.
Doch heute ist es anders. Der Kreis wurde unterbrochen.
Das Leerweinen und der Zusammenbruch erfolgen nicht erst im Park unter den Bäumen, sondern heute schon auf der obersten Treppenstufe gleich vor meiner Wohnungstür. Ich spüre, wie mein Herz rast und mein Kopf zu einem funkelnden Karussell wird, das sich bedrohlich immer schneller zu drehen beginnt.
Da sehe ich ihn: den tiefen, schwarzen Abgrund.
Ich hatte mich schon gefragt, wann er mir in all seiner Grausamkeit begegnen würde. Eine Freundin hatte mir vor vielen Jahren einmal gesagt: „Wenn du den Abgrund siehst – schau bloß nicht hinein, sonst schaut er zurück!“ Aber jetzt ist er da, unter meinen Füßen, wo vorher die Treppe war. Ich weiß genau, wenn ich jetzt einen Schritt mache, dann ist es vorbei. Dann wird mich der Abgrund letztendlich verschlucken. Ich denke: „Ich kann da nicht runter, ich kann nicht ins Büro fahren, ich kann das alles nicht mehr.“ Ich bleibe einen Moment auf meiner Treppenstufe sitzen, rolle mich ein wie ein Igel und lasse meine Tränen in den Abgrund tropfen. Sie fallen ins große Nichts. Wenn ich jetzt aufstehe und zur Arbeit fahre, falle ich vielleicht ins große Nichts. Oder ich bleibe sitzen und starre in den Abgrund.
Da höre ich, wie hinter meiner Wohnungstür der Tag beginnt.
Schritte schlurfen vom Schlafzimmer rüber ins Bad, dann in die Küche. Der Kühlschrank öffnet und schließt sich, die Kaffeemaschine surrt. Ich denke: „Was wird aus meinem Freund, wenn ich hier sitzen bleibe und nicht zur Arbeit gehe?“ Ich würde ihn mit in den Abgrund reißen. Und das will ich nicht. Auf der Bank im Park ist nur Platz für einen.
© Katrin Lindner 2025-05-28