by Michael Dold
Man saß in geselliger Runde beisammen und jeder wurde aufgefordert, eine peinliche Geschichte aus seinem Leben zu erzählen. Frank meldete sich als erster und legte auch gleich los: “Also das war so: Mein Freund Leo und ich feierten ausgiebig in unserem Stammlokal in der Altstadt. Ich war gerade achtzehn geworden und er hatte eine Woche zuvor seinen Lehrabschluss gemacht. Danach, es ging schon gegen Mitternacht, verspürten wir noch Lust auf einen Imbiss und besuchten einen Würstelstand. Leo nahm ein Paar Frankfurter mit Kren und ich eine fette Krainer mit scharfem Senf.
Als ich mich gerade über meine heiße Krainer hermachte, stieß eine Gruppe älterer Leute zu uns. Sie waren alle waren festlich gekleidet und kamen offensichtlich soeben aus dem Theater, denn sie unterhielten sich lachend über das eben gesehene Stück.
Einer von ihnen, ein circa sechzig Jahre alter Mann mit Goldrandbrille, drehte sich mir zu und meinte launig: ” Na, junger Mann, was gibt’s denn in diesem 3-Sterne-Restaurant so Köstliches zu speisen?” In diesem Moment biss ich in meine Wurst und ein dicker Fettspritzer landete direkt auf seiner Seidenkrawatte. Ich entschuldigte mich sofort, griff gleichzeitig nach einer Papierserviette und versuchte, das Missgeschick zu beseitigen. Reflexartig wich mein “Opfer” zurück und ihm entfuhr ein unwirsches “Lassen Sie das!” Sofort unterbrach ich meinen etwas hilflosen Reinigungsversuch, ließ von ihm ab und widmete mich wieder meiner Wurst. Da klopfte mir plötzlich jemand von hinten auf die Schulter. Ich drehte mich um, es war wieder der Mann von vorher. Er streckte mir seine Hand entgegen, ich dachte, er böte sie mir zur Versöhnung und ergriff ebenfalls seine Hand. Doch er entzog sie mir ruckartig und zischte: “Netter Versuch! Und jetzt her mit meiner goldenen Krawattennadel oder ich hole die Polizei!”
Ich verstand zunächst gar nichts, erst als ich in sein wütendes Gesicht und dann den Fettfleck auf seiner Krawatte sah, begriff ich: Der Mann beschuldigte mich allen Ernstes, ihn beim Abwischen des Fettfleckes, bestohlen zu haben. Unter den Anwesenden begannen hitzige Wortgefechte. Seine Gruppe forderte lautstark die Herausgabe des Schmuckstückes, andere fanden das Verhalten des Mannes als empörend, jemanden einfach so des Diebstahles zu beschuldigen.
Die allgemeine Aufregung legte sich schlagartig, als von hinten ein Rufen zu vernehmen war: “Herr Doktor Baum, schauen Sie, was ich in ihrer Loge gefunden habe!” Mit ausgestrecktem Arm kam ein etwas hinkender Mann auf uns zu und überreichte dem Angesprochenen eine goldene Krawattennadel. Der Mann war der Hausmeister des Theaters und hatte die Nadel beim letzten Kontrollgang entdeckt.
Die aufgebrachte Stimmung wich einem Gefühl der Erleichterung. Doktor Baum entschuldigte sich und streckte mir als Wiedergutmachung einen Fünfhunderter entgegen. Gerade, als ich danach greifen wollte, wachte ich auf.”
Acht enttäuschte Zuhörer forderten Rache…
© Michael Dold 2020-04-09