Ammelie

Emma Haase

by Emma Haase

Story

„Solltest du keine weiteren Fragen mehr haben, könnte ich dir noch zeigen, was mit den Erinnerungen geschieht, wenn du mit ihnen fertig bist.“ schlägt Henry vor, während er einen sehnsüchtigen Blick auf die Tür wirft, hinter der sich Phillipikos befindet. Gerade als ich nicke, kommen zwei Mädchen in meinem Alter herein. Aus irgendeinem Grund kann ich nicht anders, als sie anstarren. Sie kommen mir so bekannt vor. Wie kann das sein? Je länger ich sie ansehe, desto verwirrter werde ich. Es ist, als würde ich doppelt sehen. Ich bekomme Kopfschmerzen. Um mich zu beruhigen, schließe ich die Augen.

„Ammelie? Was machst du denn hier?“, ruft eines der Mädchen ungläubig. Ich sehe auf. Sie starrt mich mit großen Augen an. Dann stößt sie ihre Begleiterin an, die mich ebenfalls entgeistert ansieht. Mein Kopf beginnt sich zu drehen. Mein Herz rast. Plötzlich schießen mir Erinnerungsfetzen durch den Kopf. Ich kenne die beiden. Das sind Lucy und Charlotte, wir sind schon seit dem Kindergarten befreundet. Wie konnte ich sie vergessen? Alles verschwimmt. Mir wird schwarz vor Augen. Ich muss mich am Tresen festhalten. Vor meinem inneren Auge erscheint eine Straße. Ein Baum nähert sich rasend schnell. Eine gerissene Windscheibe. Nein, ich will das nicht sehen. Es soll aufhören. Ich presse die Hände an den Kopf, als könnte ich ihn so daran hindern zu explodieren.

„Wir dachten, du hättest überlebt, als du nicht im Tempel warst.“, wirft Charlotte ein, aber ihre Stimme geht in ihrem Schrei in meinem Kopf unter. Ihrem letzten Schrei. Ist sie etwa mit mir gestorben? „Alles in Ordnung?“, fragt Lucy besorgt. Ich will sie ansehen, aber ihr Gesicht verschwimmt. Ich sehe, wie sie blutüberströmt auf dem Autositz neben mir zusammengesunken ist. Sie auch? Was habe ich getan?

Henry legt mir eine Hand auf den Rücken. „Setz dich, du bist ja ganz blass.“ Blind taste ich nach dem Stuhl, den er mir anbietet. Lucy und Charlotte kommen näher. „Was hast du? Ammelie, bitte sag doch etwas.“

Aber ich bin schon zu weit weg, um Lucy zu antworten. Es war heute Morgen. Wir hatten frei und wollten gemeinsam einen Film ansehen. Eine ganz frühe Vorstellung, wir haben gehofft, wir würden den Saal für uns alleine haben. Ich bin gefahren, erst habe ich Lucy, dann Charlotte eingesammelt. Das Wetter war gut, wir haben Charlottes Playlist mitgesungen. Plötzlich taucht da dieser Traktor auf. Er ist riesig, füllt die gesamte Windschutzscheibe aus. Seine Reifen sind größer als das Auto. Ich weiche aus, reiße das Steuer nach rechts. Aber rechts ist nichts, rechts ist die Straße zu ende. Das Auto beginnt zu rutschen. Ich weiß nicht, was ich machen soll, drücke auf die Bremse. Plötzlich ein Baum. Er kommt unaufhaltsam näher. Der Aufprall erschüttert mich, schleudert mich nach vorne, der Gurt drückt mir die Luft aus den Lungen. Charlotte schreit, ich will sie ansehen. Mein Kopf tut so weh, alles tut weh. Lucy neben mir, Blut läuft ihr über das Gesicht. Sie bewegt sich nicht. Ihre Augen sind offen, sehen mich anklagend an. Mein Kopf wird schwer, sinkt aufs Steuer…

© Emma Haase 2023-08-28

Genres
Novels & Stories