Wir Kinder haben es oft nicht leicht. Uns wird gesagt, dass man bei Rot nicht über die Straße geht. Das ist einfach. Aber sie alle gehen bei Rot über die Straße. Wenn sie denken, dass sie unbeobachtet sind. Wenn sie denken, dass sie nicht vom Auto erfasst werden können. Wir Kinder aber sollen auf Grün warten, während unsere Eltern, Lehrer und Geschwister längst die Straße überquert haben und davon sind. Wir Kinder werden an der Ampel zurückgelassen, wir warten auf Grün. Eine Schulklasse überquert einen Zebrastreifen am anderen Ende der Stadt. Vor dem schwarz-weißen Gericht des Zebrastreifens sind alle gleich. Man wartet nicht, man geht, die Autos halten meistens für Kinder und Erwachsene. Zebrastreifenkinder müssen nicht auf Grün warten und müssen nicht stehenbleiben, wie wir Ampelkinder das müssen. Im Dorf rollt ein Ball vor einen Traktor. Kinder ohne Ampeln und Zebrastreifen sind unberechenbar. Ihnen wird viel mehr und viel weniger zugemutet. An der Ampel warten wir noch länger und vergießen Tränen, weil wir unsere Eltern, Lehrer und Geschwister nicht mehr sehen. Sie haben uns verlassen, weil die Straße frei und die Ampel rot war. Die Ampel kann für Kinder nur rot oder grün sein. Gelb ist bloß für Autofahrer relevant. Wir Kinder stehen beieinander. Es kommen Leute, die uns helfen wollen. Was für nette Menschen. Sie nehmen die kleinen Mädchen bei der Hand und führen sie davon, helfen ihnen über die Straße, obwohl die Ampel rot ist. Bestimmt bringen sie sie zu ihren Familien! Was für nette Menschen. Dass wir nicht mit Fremden mitgehen sollen, fällt uns erst wieder ein, als alles zu spät ist. Wir waren so sehr auf die rote Ampel fokussiert. Wir haben einander. Da leuchtet die Ampel plötzlich grün und wir trennen uns. Einige rennen über die Straße und suchen nach ihren Eltern, Lehrern oder Geschwistern. Andere haben nur gewartet, weil sie nichts anderes wussten, und merken nun, dass sie nicht auf die andere Straßenseite wollen, sondern von denen gedrängt wurden, die längst gegangen sind. Diese Kinder gehen jetzt einfach davon. Unvollrichteter Dinge, denn sie hatten nie etwas Eigenständiges zu tun und haben um des Wartens willen gewartet. Die letzten Kinder stehen regungslos da, sie hatten nie geglaubt, dass die Ampel noch einmal grün werden würde und wissen nicht, mit dieser Situation umzugehen. Erst als die Ampel wieder rot wird, geht es uns gut. Um uns herum sammeln sich neue Ampelkinder, die mit uns auf Grün warten. Aber wir sind jetzt erwachsen, sind Eltern, Lehrer und Geschwister und haben lange genug gewartet. Es muss nicht grün sein, um die Straße zu überqueren, das wissen wir jetzt. Und das werden die Ampelkinder auch verstehen. Ich gehe zur anderen Straßenseite.
© Anja Kleemann 2023-02-19