Gerechtigkeit ist vielgestaltig. Gerechtigkeit ist auch, wenn Menschen, die nichts Besseres verdient haben, an den Falschen geraten. Wie etwa der Handtaschenräuber, der versucht, die Karate-Trainerin auszurauben. In der folgenden Geschichte bin ich dieser Falsche, an den ein Telefonbetrüger gerät.
Eines Tages erhalte ich – auf dem Weg in die Kanzlei, in der ich als Konzipient arbeite – einen Anruf von einer unbekannten Nummer. Der Anrufer, der Englisch spricht, stellt sich als Mitarbeiter des „Microsoft Tech Support“ vor: Mein PC sei von einem Virus befallen, er wolle mir aber gerne weiterhelfen.
Ich verdiene mein Geld oft damit, die Fehler, die Mandanten aus Gutgläubigkeit gemacht haben, wieder auszubessern. Mir ist sofort klar, dass der Anrufer mich dazu bringen will, einen Fehler zu begehen. Anstatt aufzulegen, spiele ich mit.
Ich sage: „Ja, ich sitze gerade vor meinem Computer. Danke für den Anruf. Ich weiß, Ihre Hilfe sehr zu schätzen. Was kann ich tun?“
Der Mann vom Tech Support leitet mich an, die Windows-Kommandozeile zu öffnen und eine Buchstabenfolge einzugeben. Ich tue so, als würde ich jeden der Schritte befolgen – ich stelle mich dabei unglaublich dumm an, so lasse ich mir etwa die Buchstabenfolge fünf Mal vorsagen. Außerdem gehe ich auf dem Bürgersteig vor meiner U-Bahn-Station auf und ab, damit die Stationsgeräusche den Anrufer nicht misstrauisch machen.
Nach etwa zehn Minuten platzt dem höflich, aber bestimmt mit mir redenden Mann vom Tech Support dann doch der Kragen.
„Sie sitzen ja gar nicht vor Ihrem Computer!“, sagt der Anrufer, „Sie, mein Herr, sind ein Lügner!“
Mir ist es bis jetzt schon schwergefallen, nicht zu lachen, aber nun kann ich das Gelächter nicht mehr zurückhalten. Ich lache also laut auf und sage: „Und Sie, mein Herr, sind ein verdammter Betrüger.“
Darauf er: „Ja, das ist wahr!“ (Ich muss es wiederholen, weil er tatsächlich gesagt hat: „Ja, das ist wahr!“)
Nach so viel Ehrlichkeit wird der Mann vom Tech Support auch noch persönlich: „Aber du hast meine Zeit vergeudet. Du bist unhöflich. Du bist ein Kind. Geh zurück zur Schule!“
Nun beendet der „Microsoft Tech Support“ unser Gespräch.
Ich setze meinen Weg in die Arbeit fort, laufe mit federndem Schritt die Treppen zur U-Bahn hinunter. Ich komme später in die Kanzlei als geplant, aber es hat sich gelohnt. Wozu mache ich denn diese Arbeit, um nicht immer neue Facetten von Gerechtigkeit kennenzulernen. Immerhin konnte ich einen Betrüger mit meinen Lügen um seine kostbare Zeit bringen – Zeit, in der er einen gutgläubigen Menschen angerufen hätte, um diesen erfolgreich mit seiner Lüge vom „Virus“ zu täuschen.
© Markus Grundtner 2019-11-20