by Musenzeit
Es gibt sie noch, solche Paradetage der unbeschwerten Überlebenskunst in der stürmischen Zeitkultur!
Da machen sogar deine Augenringe Pause, deine Kalenderseite zeigt ein wohlig gähnendes “Nix” und du übersiehst voller Zuversicht, was alles aus den Boxen on- oder offline noch erledigt werden will. Da ist der Parkplatz direkt vor dem Laden für dich, der Euro wartet schon im Einkaufswagen und sonst ist auf den 1. Blick auch alles an seinem Platz, was wirklich gebraucht wird oder dauerhaft aus dem Weg sein soll. Du kannst herzlich über deine närrischen Eigenheiten lachen und dir für Gelungenes stolz auf die Schulter klopfen. Ach ja, so richtig schön sind solche Tage! Und zu selten, auf der roten Liste der gefährdeten Lebensarten und daher besonders schutzbedürftig.
Exakt an solchen Tagen tauchen dann spontan ungewöhnlich interessante Konzerttickets auf, du passt erstaunlich anstandslos in dein Lieblingskleid und beherrscht deine Schuhe mit den hohen Absätzen beifallstauglich auf Pflastersteinen. Da strahlen dich glückliche Kinder auf der Bahnfahrt an, weichen Menschen höflich mit einem Gruß aus und werden dir Türen vorauseilend geöffnet, bis dich eine gut gelaunte Kellnerin samt Lieblingssong im Café begrüßt.
“Ach, wenn wir Gott einfach mal ganz lieb bitten, ob er den Samstag auf 48 Stunden ausdehnen könnte, damit alles Schöne untergebracht werden kann? Das wäre doch was,” scherzt die Kellnerin und stellt dir einen gigantisch anmutenden Eiskaffee vor die Nase. Du kommst dir vor wie Alice im Wunderland: Bist du gerade geschrumpft oder steht da nun ein Eiskaffee vor dir, dessen Sahnehaube dich locker überragt? Ob das der Grund ist, dass du wenig später in der wohltemperierten Krypta der Peterskirche eine Gänsehaut nach der anderen bekommen wirst, wenn die litauische Sopranistin ihre gefühlsstarken Arien mit Klavierbegleitung schmettert? Oder sind das die uralten Geister dieses Ortes? Auch der Rest des Publikums wird von diesen Grabgeistern oder doch eher von den beiden Musikerinnen, die sich mit Leidenschaft, Können und Einfühlungsvermögen an einige der großen Frauenpartien der Opern gewagt haben, elektrisiert. “Bravo”-Rufe und standing ovations überschütten die Künstlerinnen, bis ihr Strahlen nicht mehr heller werden kann. Ein atmosphärisch ungewöhnlich intimer, klanglich und visuell einnehmender Aufführungsort, der hier an den Wochenenden mit klassischen Konzerten belebt wird. Währenddessen findet oberhalb in der Kirche ein katholischer “Marianischer Gottesdienst mit Sturmgebet” statt. Devote Besucherinnen füllen den barocken Raum mit ihrem Singsang an Bitten und Gebeten, munter quasselnde Touristenströme mit internationalem Einschlag beleben die mittelalterlich anmutende religiöse Szenerie. Solltest du um den 48-Stunden-Samstag bitten?
Zwei überraschend zierliche Frauen sind es, die solche musikalischen Brocken gehoben haben. Freundlich, freudig und offenherzig nehmen sie deine Komplimente entgegen. Du siehst ihre überbordende Koffer mit ihrer Garderobe und Materialien, die für das nächste Konzert an einen anderen Ort gehievt werden müssen. Eine junge, stille Malerin stellt nebenbei ihre federleichten Aquarelle aus. Du begeisterst dich für ein ruhig auf einem See schwebendes Segelboot-Motiv. Mit dem gekauften Bild gehst du zurück auf die belebten Pflasterstraßen der Großstadt. Der Abend fängt erst an – an einem solchen Tag, der 48 Stunden haben dürfte…
© Musenzeit 2024-06-04