Es passiert immer so plötzlich. Aus dem Nichts fließt so viel Wasser aus meinem rechten Auge, als würde jemand eine Zitrone auspressen. “Warum weinst du?”, fragen sie mich auf der Arbeit. “Es ist eine Erkältung”, antworte ich. Ob sie mir das abkaufen? Keine Ahnung. Aber eins ist klar: Mascara habe ich schon lange nicht mehr aufgetragen. In der Augenklinik St. Martinus erklären sie mir, dass meine Tränendrüse total verstopft sei. Der Assistent hantiert mit einer langen Nadel in meinem Auge herum. Ich sehe seine Hand, wie sie nach unten, oben, links und rechts wandert, während die Nadel in meinem Auge steckt. Danach muss ich zum Chefarzt. Ärzte, besonders in der Großstadt, sind nicht so mein Fall. Sie behandeln Patienten wie eine Nummer, starren auf den Bildschirm, stellen standardmäßige Fragen und wollen nur kurze Antworten. Der Chefarzt hat den gleichen Namen wie mein Sternzeichen, was irgendwie zur Geschichte passt. Es war an einem eiskalten Wintertag, als eine Herde Schafe mir den Weg am Brückerbach hinter dem Botanischen Garten versperrte. An diesem Tag fing mein rechtes Auge an zu tränen. Am Anfang dachte ich, es sei eine Erkältung, die von selbst heilt. Später habe ich es einfach ignoriert. Kein Ding, dachte ich. Stell dir vor, mitten in der Pandemie mit einem tränenden Auge in die Augenklinik zu gehen: “Doktor, mein rechtes Auge tränt ununterbrochen.” Das wäre absurd gewesen. Zurück zu heute: “Der Tränenkanal ist verschlossen. Eine OP ist nötig. Nebenrisiken gibt es immer, aber selten”, sagt der Chefarzt ganz direkt, passend zu meinem Sternzeichen. Ich zögere ein bisschen. Er reicht mir ein grünes Kärtchen mit der OP-Terminnummer. “Augen sind die Spiegel der Seele”, habe ich einmal als Teenager in mein Tagebuch notiert. Seitdem ist der Spruch unauslöschlich in meinem Gedächtnis verankert. Leider achtet man als Erwachsener oft nicht mehr darauf, Menschen in die Augen zu sehen. Wir rennen alle in unserem Hamsterrad und verlieren jede mystische Wahrnehmung des Lebens. Aber heute wird mir wieder klar, wie wichtig gesunde Augen sind, und ich werde nachdenklich. “Kann ich für den Glaukomtest wiederkommen?”, frage ich den Arzt und betrachte ihn erwartungsvoll intensiv in sein Gesicht. Etwas in meiner Stimme macht bei ihm Klick. “Nein, das machen Sie bei Ihrem Augenarzt”, antwortet er beruhigend, dabei sieht er mich direkt in die Augen. Ich habe das Gefühl, er erfasst gerade meine Ängste. An der Tür verfolgt er mich mit seinem Blick bis zum “Wiedersehen”. Einen OP-Termin reserviere ich erst mal nicht. Ich werde zuerst notieren, wie oft mein Auge tränt, und in welchen Situationen. Im Kino ist es egal. In der Bahn und auf der Arbeit hat es eher einen dramatischen Effekt. In der Küche beim Zwiebeln hacken passt es. Wenn es gegen eine vollverstopfte Tränendrüse keine Therapie gibt, könnte ich versuchen, öfter rührende Filme zu gucken. Vielleicht hilft es. Alles hat angefangen, als ich an einem eisigen Wintertag zur Arbeit geradelt bin und die Schafe mir den Weg versperrten. Geduldig, ohne zu meckern, habe ich darauf gewartet, dass sie den Weg freimachen. Damals hatte ich einen dicken Kloß im Hals, mein Freund hatte mich abserviert, aber ich vergoss keine Träne darüber; er hatte es nicht verdient. Seitdem weint mein rechtes Auge, wann es will.
© Cinzia Tanzella 2024-02-17