Aus dem Höllenschlund

Ronja K. Traschütz

by Ronja K. Traschütz

Story

Ich bin gefallen.
Wie die Räubertochter bin ich über den Höllenschlund gesprungen. Immer wieder. Unermüdlich. Als wäre es normal. Den Antrieb dahinter habe ich nie hinterfragt. Ein unsichtbarer Finger hat mich auf die andere Seite gelockt. Der Sprung war jedes Mal gefährlich. Doch ich hatte den Tanz am Abgrund gründlich einstudiert, ein Leben lang erprobt. 
Bis plötzlich die Musik erstarb.
Ein stiller Schrei brachte mich aus dem Gleichgewicht. 

Ich bin gefallen.
Mein Körper trägt Verletzungen, die mein Herz schon lange kennt. Ich ringe nach Atem. Ich muss meine Wunden versorgen. Doch mein Körper ist erstarrt. In der ohrenbetäubenden Stille schließe ich die Augen. Lasse die Wellen aus Schmerz über mich hinweg rollen.
Plötzlich höre ich ein dumpfes Pochen. Einen Herzschlag. Nein: ihren Herzschlag. 
Wer ist sie?
Ich habe das Gefühl, sie zu kennen. Sie schon immer gekannt zu haben. Zögernd strecke ich meine Hand nach ihr aus. Sie ist mir so nah. Doch bevor ich sie erreiche, ist es plötzlich still. Ein scharfer Schmerz zerreißt die Verbindung zwischen uns. Ich will schreien, doch meine Stimme gehorcht mir nicht. 
Schweißgebadet wache ich auf. Mein Atem geht ruckartig, ich richte mich auf. Mit Erleichterung stelle ich fest, dass ich mich wieder bewegen kann, wenn auch unter Schmerzen. Während die Dunkelheit die Felsen herunter schwappt, versuche ich zu begreifen, was gerade geschehen ist.
Denn ohne je von ihr gehört zu haben, weiß ich, dass sie meine Zwillingsschwester war. Langsam lasse ich meinen Blick hinauf wandern, zur anderen Seite der Burg.
Dort, wo nie jemand auf mich gewartet hat. Weder Birk Borkasohn noch sonst jemand. 
Ihre Seite. Ihretwegen bin ich gesprungen. Habe versucht, für uns beide zu leben. Sie in mir zu finden. Sie zu sein. So lange, bis ich mich verloren und vergessen habe. 
Wer bin ich ohne sie? Und wer bin ich mit der Erinnerung, dem Schmerz und der Wahrheit? Ich ziehe meine Beine heran. Das Gesicht auf den Knien lasse ich mich Schütteln. Vom Schmerz. Von der Angst. Von Tränen. 
Ich warte. Auf die Stille. Auf den Morgen und die Rückkehr meiner Kräfte. 

Ich bin gefallen.
Und ich werde wieder aufstehen. Einen Weg aus dem Höllenschlund finden. Und dann werde ich meine Burg erkunden. Erfahren, was zu mir gehört. Wer ich bin und was es bedeutet, ein Halbzwilling zu sein. Ich werde wachsen, bis ich jeden noch so kleinen Winkel von mir ausfülle. 
Danach werde ich eine Brücke bauen. Ich werde auf die andere Seite gehen und Samen einpflanzen. Samen für einen heilsamen Garten der Erinnerung.


© Ronja K. Traschütz 2023-09-12

Genres
Novels & Stories
Moods
Dunkel, Emotional, Hoffnungsvoll, Reflektierend, Traurig
Hashtags