Ich war 14, besuchte die 9. Klasse eines bayerischen Gymnasiums. Wie jedes Jahr waren junge Referendare in die Provinz gekommen, um hier, im langweilig-ruhigen Umfeld, ihr neu erworbenes Wissen an uns weiterzugeben. Probleme mit uns Schülern gab es nicht, denn wir waren Lämmer. Angepasst, ruhig und brav. Erzogen von Eltern, die als Jugendliche den Krieg erlebt hatten und Wert auf Gehorsam und Disziplin legten.
Und dann kam der Paukenschlag! Es wurde getuschelt, Herr H., der neue Englischlehrer, könne sich in keiner seiner Klassen durchsetzen. Sensationslüstern erzählten ältere Schüler auf dem Pausenhof, wie viel Spaß es doch machen würde, “Porky”, wie man ihn nannte, während des Unterrichts zu terrorisieren. Dabei übertrumpften sie sich gegenseitig bei der Schilderung gemeinster Grausamkeiten und ließen sich von den jüngeren Schülern dafür bewundern.
Eines Tages, teilte uns unser Klassensprecher Leo aufgeregt mit, dass unser Englischlehrer krank sei, und “Porky”, die anschließend stattfindende Schulaufgabe beaufsichtigen würde. Leos Stimme überschlug sich, als er entschlossen rief: „Ganz klar, bei DEM schreiben wir die Schulaufgabe nicht!” Verunsichert kicherten manche, andere nickten begeistert und wieder andere verharrten abwartend.
Ich war entsetzt, hoffte Argumente zu finden, um die anderen zu überzeugen, diesen Blödsinn nicht mitzumachen. Doch Leo war nicht zu bremsen. “Handzeichen, wer mitmacht”, forderte er in autoritärem Ton und sofort flogen viele Hände nach oben. „Von 25 sind 19 dafür und 6 verdammte Feiglinge dagegen, … die dann natürlich nicht mehr zur Klassengemeinschaft gehören!” Mit weiteren Drohungen versuchte er die Abtrünnigen zu erpressen und selbst, als Herr H. die Klasse betrat, zum Lehrerpult ging, die Arbeitsblätter aus seiner Mappe holte und austeilte, blieb Leo wie angewurzelt neben mir stehen. Dann schlenderte er betont langsam zu seinem Platz in der ersten Reihe.
“Ihr habt 45 Minuten …ab jetzt”, sagte Herr H.
Leo drehte sich um. Seine Mundbewegung formte deutlich sichtbar: WEHE, WENN! Und er hatte es geschafft! Keiner wagte es, den Stift in die Hand zu nehmen. “Was ist denn los?, fragte Herr H., der nach einiger Zeit registrierte, dass niemand schrieb. „Bitte fangt doch an!… Warum schreibt ihr denn nicht?… Bitte, schreibt doch endlich!“, flehte er. Ich sah, wie er litt, doch Leos Drohung, aus der Klassengemeinschaft ausgestoßen zu werden hatte auch bei mir gewirkt. Als ich bemerkte, dass Schweißperlen und Tränen über Herrn H.’s Gesicht liefen und als er plötzlich aus dem Zimmer lief, fühlte ich mich unendlich schuldig. Und die Konsequenz? Wir bekamen eine kurze Moralpredigt von einer grinsenden Lehrerin, die uns mitteilte, dass man Herrn H., wegen Unfähigkeit an eine andere Schule “strafversetzt” hatte.
13 Jahre später wurde ich mit diesem Erlebnis erneut konfrontiert. Ich sollte als junge Lehrerin Klassen eines Kollegen übernehmen, der Suizid begangen hatte. Es war Herr H.
© Elisabeth Grosch-Waclowsky 2023-02-20