by Vanessa Golz
20:25 Uhr. Mit einem Lächeln klappte ich den Laptop zu. Früher hatte ich mir nie vorstellen können, so lange zu arbeiten und hatte die Leute für verrückt erklärt, die dazu bereit waren. Stets hatte ich erklärt, wie wichtig mit eine gute Work-Life-Balance ist. Dabei war mir einfach nur wichtig gewesen, so wenig Zeit wie möglich bei der Arbeit zu verbringen. Zwanzig Jahre hatte ich in der Buchhaltung der örtlichen Bank verbracht, kannte jeden Buchungssatz und jeden Makel im Prozess.
Ich hatte nicht mehr an einen Neuanfang geglaubt. Schließlich war ich schon Ende fünfzig. In diesem Alter nochmal die Branche zu wechseln und etwas ganz anderes zu machen war mehr als ungewöhnlich. Ich hatte es nicht einmal in Betracht gezogen, trotz meiner steigenden Unzufriedenheit mit eigentlich allem um mich herum. Über eine neue Wandfarbe für die Küche hatte ich nachgedacht oder eine neue Frisur, aber ein neuer Job war mir nie in den Sinn gekommen.
Dann habe ich zufällig einen alten Freund getroffen. Peter erzählte mir, dass er sich selbstständig gemacht habe und erklärte mir sein Geschäftsmodell. Es ging darum, Buchhandlungen dabei zu beraten, wie sie für Kunden attraktiv bleiben können in Zeiten von Digitalisierung und Onlinehandel.
Ich war fasziniert und wir plauderten eine Weile. Er fragte auch nach meiner Arbeit und ich erzählte ihm in wenigen Worten, was ich tat. Ich musste dabei so unglücklich gewirkt haben, dass er mir daraufhin einen Job anbot. Einen Job, den ich bereits wenige Monate später antrat und der mir mehr Energie gab als er mir nahm, der mir Spaß machte und mir ein Funkeln in die Augen zauberte. Peter erklärte mir, dass er gespürt habe, dass in mir mehr Potential steckte und wollte mir zeigen, was alles möglich war. Und es war so viel mehr möglich als ich jemals geglaubt hätte!
Zunächst hatte ich natürlich unendlich viele Bedenken gehabt und die große Sorge, zu scheitern. Schließlich sollte ich nun viel mehr mit Menschen zu tun haben als mit Zahlen, viel unterwegs sein und „netzwerken“. Das alles kannte ich nicht. Es war eine neue Welt für mich. Und doch entsprach es so viel eher meinem Naturell als sture Rechnerei. Nie hätte ich geglaubt, dass ich einmal auf Kongressen vor hunderten Menschen über eine meiner Lieblingsbeschäftigungen referieren würde: das Lesen.
Nach über dreißig Jahren im Berufsleben habe ich meine Berufung gefunden. Ich habe nun eine Arbeit, die mir sinnvoll erscheint und an deren Wert ich glaube. Mir war vorher nicht bewusst gewesen, dass es genau dieses Gefühl war, dass mir all die Jahre gefehlt hatte. Die Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeit verschwimmen auf einmal und es macht mir gar nichts aus. Die Welt der Bücher war insgeheim schon immer meine Welt. Es hat nur eine Weile gedauert, bis ich das verstanden habe.
© Vanessa Golz 2022-07-29